Juli 11

IX. Was ist jetzt (!) wesentlich?

Was ist jetzt (!) wesentlich?

Verantwortungsbewusstsein, Solidarität und Menschenliebe

Gedanken zum Zeitgeist IX – im Ostfalen-Spiegel

Von Rainer Elsner

„Hoffnung ist etwas anderes als Optimismus. Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat, ganz egal, wie es endet.“

Václav Havel[1]

Damals

Wir schreiben heute das Jahr 2016[2]. Für mich als Kind der 1960er Jahre trägt dieses Datum etwas Futuristisches in sich. Ein Sciencefiction-Film aus der Zeit meiner Kindheit trägt den Titel „2001 – Odyssee im Weltall“. Die Jahreszahlen jenseits der nächsten Jahrhundertwende, die zugleich ja sogar eine Jahrtausendwende sein würde, trugen alle etwas weit entferntes in sich – auch später noch, als wir herangewachsen waren und die Jahrtausendwende näher rückte. Noch Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre, als ich studierte, hatten Jahreszahlen mit der 2000 etwas fernes, fast unerreichbares.

Zur selben Zeit, den Jahrzehnten nach den grauenvollsten Ereignissen, die die Menschheit bis dahin erleben – und verantworten – musste (dem Zweiten Weltkrieg mit dem Holocaust und weiterer organisierter Menschenvernichtung[3]), standen sich zwei waffenstarrende Systeme gegenüber, die mit ihren Atomwaffen beide in der Lage waren, den Planeten innerhalb kürzester Zeit für Menschen unbewohnbar zu machen. Die Zeit wurde der „Kalte Krieg“ genannt. „Kalt“, weil es – angeblich – keine „heißen“, also bewaffneten, Konflikte zwischen den Systemen gab. Dies war allerdings eine Lüge – wie so vieles. Denn die Systeme bekriegten sich durchaus auch „heiß“. Nur dieses Töten und Morden fand (vorrangig) nicht auf den Territorien der Kernstaaten dieser Systeme statt – Westeuropa und Nordamerika auf der einen Seite und Osteuropa und die Sowjetunion auf der anderen Seite (die Grenze der Systeme lief mitten durch Deutschland!). Sondern es ereignete sich in vielen Ländern der sogenannten „Dritten Welt“. Das Foltern und Morden fand in Staaten Mittel- und Südamerikas, in Afrika und in Südostasien statt – von Chile über Angola bis hin nach Vietnam (um eine bekannte, aber an dieser Stelle willkürliche Auswahl zu nennen) – zu verantworten von beiden Systemen! Trotz des relativen Friedens (der ja trügerisch war), sehnten viele Menschen ein Ende diese Kalten Krieges (und der Teilung Deutschlands) herbei. Doch auch dies lag als Möglichkeit scheinbar unvorstellbar weit in der Zukunft.

1972, wenige Jahre nach dem einleitend genannten Film wurde ein wissenschaftlicher Report veröffentlicht: „Die Grenzen des Wachstums“, der erste Bericht an den Club of Rome. In diesem Bericht, der auf damals noch in den „Kinderschuhen“ befindlichen Computerberechnungen basierte, prognostizierten diese Wissenschaftler erstmals fundiert – damals noch relativ vorsichtig – den Kollaps unserer Lebenswelt. Der exponentiell steigende Ressourcenverbrauch in einer endlichen Welt gepaart mit anderen Faktoren wird das Leben der Menschheit, zumindest so, wie es seinerzeit gelebt wurde, schon im kommenden Jahrhundert ernsthaft bedrohen. Danach häuften sich solche Berichte, die es schon bald zuließen, von einer „ökologischen Krise“ zu sprechen – eigentlich sogar von einer „sozial-ökologischen Krise“[4], denn das eine lässt sich nicht vom anderen getrennt betrachten! Doch alle sprachen von einer Zukunft, die – vielleicht wegen der noch nicht überschrittenen, aber bevorstehenden Jahrtausendwende – noch fern zu sein schien. Für die einen bedeutete dies, dass ja noch kein Handlungsbedarf besteht. Für andere barg dies noch die Zuversicht in sich, dass ja noch genügend Zeit bleibt, um zu handeln.

Heute

Heute nun, inzwischen mitten im Jahr 2016, ist vieles Geschichte.

Der „Kalte Krieg“ ist beendet – wie es scheint, allerdings nur, um zahlreichen „heißen“ Kriegen und Bürgerkriegen Platz zu machen. Diese gab und gibt es dann auch schon wieder zeitweise in Europa (ehemaliges Jugoslawien und in jüngster Vergangenheit in der Ukraine). Neu ist, dass der Respekt vor einer Ausweitung von kriegerischen Auseinandersetzungen auf ganz Europa nun auf breiter Front zu schwinden scheint. Und als Folge all dieser global stattfindenden Kriege sind weltweit viele Millionen Menschen auf der Flucht vor Terror und Gewalt.

Auch die deutsche Teilung ist Geschichte. Deutschland ist nun glücklicherweise seit mehr als 25 Jahren wiedervereinigt. Doch beschämenderweise betreibt das wieder „große“ Deutschland nun auch wieder Außenpolitik gestützt auch auf militärische Mittel und Optionen – eine Außenpolitik, die häufig vorrangige Wirtschaftspolitik ist.[5]

Insofern bleibt es fraglich, wie weiter der Fortschritt reicht, den das (in jedem Fall aber zu begrüßende!) Ende des Kalten Krieges gebracht hat.

Die Prognosen des Wissenschaftsberichtes aus 1972 haben sich hingegen in vielen Bereichen bestätigt. Am gravierendsten ist dies inzwischen bei einem Phänomen der Fall, was seinerzeit noch keine ausführliche Erwähnung fand: die die bekannte Biosphäre bedrohende, menschenverursachte Erderwärmung (auch als Klimawandel bezeichnet).

In seinem mittlerweile fünften Sachstandsbericht beschreibt 2014 der 1988 von der UN gegründete Weltklimarat (IPCC) inzwischen eine dramatische Situation, die vernünftigerweise keinen Raum mehr für taktische Gedanken lässt – vernünftigerweise! Und auch die realen klimatischen Ereignisse lassen dafür keinen Raum mehr – vernünftigerweise: Einige Inselstaaten bereiten sich schon auf das Verlassen ihrer im wahrsten Sinne des Wortes untergehenden Heimat vor. Hunger und Dürre – durch diese ökologische Krise verursacht – treiben weltweit weitere Millionen Menschen in die Flucht aus ihrer Heimat. An Zahl und Ausmaß zunehmende Extremwetterereignisse bedrohen verstärkt auch die Gebiete der westlichen Industrienationen. Und vieles mehr … [6]

Und doch handelt die Mehrheit von Verantwortungsträgern (im weitesten Sinne!) weltweit so, als hätten wir noch „alle Zeit der Welt“. Wachstum und Gewinne, Reichtum und Macht, dass ist unverändert das „goldene Kalb“, um das – häufig rabiat und rücksichtslos – getanzt wird.

„Das Morgen ist schon im Heute vorhanden, aber es maskiert sich noch als harmlos, es tarnt und entlarvt sich hinter dem Gewohnten. Die Zukunft ist keine sauber von der jeweiligen Gegenwart abgelöste Utopie: die Zukunft hat schon begonnen. Aber noch kann sie, wenn rechtzeitig erkannt, verändert werden.“ [7]

Robert Jungk

Was sind nun aber unsere dringlichsten Aufgaben? Was ist jetzt wesentlich?

Zum einen der Schutz der Menschen in der Gegenwart! Wir müssen allen Menschen ein menschenwürdiges Dasein ermöglichen.

Zum anderen der Schutz der Menschen in der Zukunft! Wir müssen unseren Nachfahren die Möglichkeit erhalten, menschenwürdig zu leben und selbst zu bestimmen, wie sie wo leben wollen.

Der Schutz der Menschen in der Gegenwart bedeutet, dass jeder Art von Gewalt und bewaffnetem Konflikt entgegengewirkt werden muss, dass Hunger beseitigt wird und dass Menschen in Not geholfen wird. Ob sie nun vor der Gewalt fliehen oder vor dem Hunger. Die Keimzellen für diese Arbeit müssen wir als liebende[8] Menschen sein. Alle Gewalt hat ihren Ursprung im unreflektierten, lieblosen Umgang mit uns selbst und unseren unmittelbaren Mitmenschen – die Eltern mit ihren Kindern, der Freund mit dem Freunde, der Chef mit seinen Mitarbeitern, die Gesellschaft mit ihren schwächsten Gliedern, … Hier also muss ein jeder von uns beginnen.

Für den Schutz der Menschen in der Zukunft ist Klima- und Umweltschutz oberstes und drängendstes Gebot! Auch hier ist letztlich ein liebevolleres Handeln gefordert – nur etwas abstrakter erkennbar. Denn jede meiner Handlungen in der Welt von heute bewirkt etwas in der Welt von morgen. Diese Wirkung wird dann unmittelbar auf die dann lebenden Menschen treffen und ihnen Freiheiten nehmen oder lassen – sie also lieblos oder liebevoll behandeln. Hoffentlich am schnellsten einleuchten wird diese Gegebenheit, wenn wir an unsere direkten Kinder denken – die eigenen oder die als Mitmensch auch in meine Verantwortung mit überlassenen. Wer wünscht seinen Kindern schon eine Zukunft mit zunehmender Wasserknappheit, Rohstoffarmut, von sengender Hitze verdorrten Böden und ständiger Bedrohung durch Gewalt und Krieg? Genau das aber zeichnet sich als deren Zukunft ab – ja, schon der heute lebenden Kinder!

Beides sollten wir uns alle vor Augen halten, wenn wir über unser Dasein und unsere Aufgaben in der Welt nachdenken. So interessant und wichtig eine noch freiere Gesellschaft in der Zukunft auch sein kann. Für den Augenblick genügt es, den Status Quo zu erhalten (was schwierig genug ist).[9] Ich muss an dieser Stelle einem sehr guten Freund zustimmen, der mich jüngst in einem unserer zahlreichen Gespräche über die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage darauf aufmerksam machte, dass es unsere aktuelle Aufgabe nur noch sein kann, den Menschen in der Zukunft überhaupt ein Leben zu ermöglichen – und damit dann auch die Möglichkeit, die Geschichte des Fortschritts einer freien und menschenwürdigen Gesellschaft fortzuschreiben. Die Menschen der Zukunft müssen (und wollen sicher auch) dann selbst entscheiden, wie sie zusammenleben werden. Was wir aber in der Hand haben, ist, ihnen überhaupt die Freiheit einer Entscheidung zu vererben.

Und hierfür müssen wir alle zusammenbringen, die sich dieser Verantwortung bewusst sind. Egal ob sie dem – demokratisch gebändigten – Kapitalismus eher zugeneigt sind oder ihn eher als eine der Ursachen unserer gegenwärtigen großen Probleme sehen. Vereinfacht gesagt: Jeder und jede, der und die sich seiner und ihrer großen Verantwortung für seine und ihre Mit- und Nachwelt bewusst geworden ist, ist willkommen und sollte mit uns an den genannten Aufgaben arbeiten. Nur so wird es noch ein „nach uns“ geben können!

… Der Anspruch der Situation an den Menschen scheint in der Tat von der Art, daß nur ein Wesen, das mehr als Mensch ist, ihm Genüge tun kann. Die Unerfüllbarkeit des Anspruchs kann verführen, ihn zu umgehen, sich einzurichten auf das nur Gegenwärtige und seinen Gedanken eine Grenze zu setzen. Wer alles in Ordnung glaubt und dem Weltlauf als solchem traut, braucht nicht erst Mut zu haben … Auf echte Weise hat Mut, wer aus Angst im Erfühlen des Möglichen zugreift in dem Wissen: nur wer Unmögliches will, kann das Mögliche erreichen. Die Erfahrung der Unerfüllbarkeit in dem Versuchen der Erfüllung kann allein verwirklichen, was dem Menschen aufgegeben ist zu tun.“ [10]

Karl Jaspers (1932)

Wolfenbüttel, im Juli 2016 (mit Unterbrechung ausgearbeitet seit Januar 2016)

Verweise

[1] Václav Havel, zitiert nach: Andreas Weber u. Daniel Rosenthal (Fotos), „Nur draußen ist er mittendrin“, greenpeace magazin 06/2015, S. 42.

[2] Oder 12016 HE (Holozen-Ära) in einer religionsfreien, die Menschheit als Ganzes berücksichtigenden Zeitrechnung zu sprechen. So sinnvoll mir das prinzipiell erscheint, so wenig praktisch (also verständlich) wäre es allerdings im Moment (und bis auf weiteres). Weitere Informationen hierzu: https://de.wikipedia.org/wiki/Holoz%C3%A4n-Kalender

[3] Neben der für sich schon grauenvollen Vernichtung von Millionen Menschen jüdischer Abstammung wurden von der deutschen Vernichtungsindustrie auch unzählige Menschen anderer Abstammung wie Sinti und Roma oder politisch anders Denkende gefoltert und ermordet. Zudem gab es ähnlich menschenverachtende Vorgänge unvorstellbaren Ausmaßes auch auf dem anderen Schauplatz des Zweiten Weltkrieges, dem von Japan eroberten und unterdrückten Teilen Asiens wie z. B. in China.

[4] Mit dem Begriff „ökologische Krise“ ist eine Zusammenfassung aller Umwelt- und der damit in Wechselwirkung stehenden Gesellschaftskrisen gemeint; vgl. Rainer Elsner: Ökologie in Lehre und Forschung. Hochschulreihe Band X. Wolfenbüttel: Fachhochschule Braunschweig/Wolfenbüttel, 1994, S. X u. 17 ff.

[5] Zur militärisch gestützten deutschen Außenpolitik hatte ich anlässlich des Rücktritts von Bundespräsident Köhler seinerzeit bereits ein paar „Gedanken zum Zeitgeist“ veröffentlicht, vgl. Rainer Elsner: „Tapfer sterben für …“, Ostfalen-Spiegel, 10.06.2010 (https://www.ostfalen-spiegel.de/tapfer-sterben-fur/).

[6] Einen sehr umfassenden und fundierten Sachstandsbericht, der auf seinen 778 Seiten auch historische Zusammenhänge und Entwicklungen aufzeigt und dennoch kurzweilig zu lesen ist, liefert das 2015 veröffentlichte Buch des Direktors des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK): Hans Joachim Schellnhuber: Selbstverbrennung: Die fatale Dreiecksbeziehung zwischen Klima, Mensch und Kohlenstoff. München: C. Bertelsmann, 2015

[7] Robert Jungk: Die Zukunft hat schon begonnen. Stuttgart: Scherz & Goverts, 1952, S. 17; zitiert nach „Vernetzung von Zukunftswerkstätten“ https://www.zwnetz.de/Jungk/50.html?#Anchor-Bottom

[8] An solcher Stelle von der Liebe zu reden mag ungewöhnlich erscheinen. Doch Mangel an Liebe ist möglicherweise der Kern des Problems. An dieser Stelle reicht der Platz nicht aus, dies tiefergehend zu erörtern, aber dieser kleine Hinweis ist notwendig. Wir geben uns lieber irgendwelchen gekränkten Eitelkeiten, Machtspielen und Egoismen hin – mitunter im Zweifel bis aufs Blut, als uns auf das Wesentliche zu besinnen. Uns darauf zu besinnen, was uns in diese Welt gebracht hat und unserem Leben überhaupt Sinn verleiht: die uns letztlich positiv mit allem Lebenden verbindende Liebe.

[9] Dass der Status Quo zumindest in Deutschland wenigstens in der Theorie unserer Verfassung eine unverändert bedeutende und schützenswerte Errungenschaft darstellt, habe ich in meinen „Gedanken zum Zeitgeist“ vom 23. Mai 2011 dargelegt, vgl. Rainer Elsner: „Begründung einer Hoffnung …“, Ostfalen-Spiegel, 23.05.2011 (https://www.ostfalen-spiegel.de/v-begrundung-einer-hoffnung/).

[10] Karl Jaspers: Die geistige Situation der Zeit: von Prof. Dr. Karl Jaspers. 9. Abdr. der im Sommer 1932 bearb. 5. Aufl. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1999 [(1) 1932], S. 134 f.

Bildnachweis

Bild und Text zum Bild: Ghostwriter123, via de.wikipedia.org, Lizenz: CC BY-SA 3.0

Gedanken zum Zeitgeist

In den Gedanken zum Zeitgeist erscheinen in loser Folge kritische Kommentare zur aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Deutschland und der Welt. Die einzelnen Gedanken zum Zeitgeist fokusieren in der Regel ein Thema und setzen auch unterschiedliche Schwerpunkte.  Grundsätzliche Standpunkte wie auch der philosophische Unterbau werden dabei nicht jedes Mal neu dargelegt. Für ein besseres Verständnis der Basis der geäußerten Kritik ist es also sinnvoll, nach und nach alle Gedanken zum Zeitgeist zu lesen und auch die Seite Ostfalen-Spiegel.

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Juni 16

#4 Ein Bundespräsident in fragwürdiger Tradition

Ein Bundespräsident in fragwürdiger Tradition

Ein kurzer Denkanstoß zur Antrittsrede von Bundespräsident Gauck in der Führungsakademie der Bundeswehr

Denk-Anstoß #4 – im Ostfalen-Spiegel

Von Rainer Elsner

„Die Freiheit als Mensch, deren Prinzip für die Konstitution eines gemeinen Wesens ich in der Formel ausdrücke: Niemand kann mich zwingen, auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, (d.i. diesem Rechte des andern) nicht Abbruch tut.“

Immanuel Kant

Wolfenbüttel, 16.06.2012 (Ergänzungen 18.06.2012). Schade! Mehr fällt mir zunächst nicht ein. Oder vielleicht auch noch: Das habe ich aber leider nicht anders erwartet. Denn Herr Gauck reiht sich gerade in mehrere fragwürdige Traditionen ein. Die eine Tradition ist relativ alt und zeitweise zu ertragen, denn wir sind alle Menschen. Diese Tradition ist die von Bundespräsidenten, die es nicht schaffen, diesem Amt eine besondere Rolle und Würde im politischen Geschehen zu verleihen. In meiner persönlichen Erinnerung, die diesbezüglich irgendwann in den 1970er Jahren einsetzt, hatten wir zwei Präsidenten, die sich definitiv nicht in diese Tradition einreihten, sondern das Amt auf je eigene Weise besonders würdevoll ausübten: Richard von Weizsäcker und Johannes Rau. Es ist also keine Frage des Parteibuches.

In den Chor einstimmen, der uns Deutsche wieder kriegstauglich machen will

Eine weitere fragwürdige Tradition ist relativ jung. Sie wurde von Horst Köhler begründet. Das ist die Tradition von Bundespräsidenten, die kritiklos in den Chor einstimmen, der uns Deutsche (eigentlich grundgesetzwidrig) wieder kriegstauglich machen will. Horst Köhler sagte sinngemäß, dass wir uns daran gewöhnen müssen, dass der Krieg wieder ein legitimes Mittel der Außenpolitik wird und knüpfte damit – vielleicht ungewollt – an eine Tradition an, die uns schlussendlich in zwei grausame und menschenverachtende Weltkriege geführt hat. Und Joachim Gauck reiht sich ein, indem er – wie schon in anderen politischen Fragen – das Regierungshandeln als richtig und Kritik daran sinngemäß als Gedanken verwöhnter, undankbarer Spinner abtut. Und, schlimmer noch, indem er in diesem Fall Kriegsgegner als „Glückssüchtig“ brandmarkt – na schönen Dank auch lieber Herr Pfarrer Gauck!

So wenig ein Soldat im Krieg fällt – er wird getötet, er stirbt auf tragische Weise

Da sollen wir also wieder hin, ja? Dass wir gefallene Soldaten als Helden verehren und ihren lebenden Kameraden den Bürgersteig frei machen. Dass es für jeden ordentlichen Bürger die erstrebenswerteste Auszeichnung ist, Reserveoffizier zu sein. – Also in die „mit Gewalt imprägnierte Gesellschaft“, der wir viele Millionen tote, verwundete und traumatisierte Menschen verdanken. Nein Herr Gauck! So wenig ein Soldat im Krieg fällt – er wird getötet, er stirbt auf tragische, oft grausame Weise, so wenig sollten wir getötete Soldaten als Helden feiern oder zu ihnen verklärt aufschauen!

unseren Soldatinnen und Soldaten Respekt und Anerkennung  entgegenbringen

Was wir tun sollten (auch, weil wir als Wählerinnen und Wähler die Politik mit verantworten), ist, unseren Soldatinnen und Soldaten Respekt und Anerkennung dafür entgegenbringen, dass sie bereit sind, Leben und Gesundheit für uns und unsere Freiheit einzusetzen – wie das aber tagtäglich auch Polizisten und Feuerwehrleute tun! Dennoch, ich bin der Letzte, der den Soldaten der Bundeswehr (sofern sie wirklich zu ihrem Eid auf unsere Verfassung stehen), den Respekt und die Anerkennung ihrer Arbeit gegenüber versagt. Diesen Respekt und diese Anerkennung verdienen sie (- bekommen sie von ihrem Dienstherren im Falle von Verwundungen und Traumatisierungen aber häufig wohl nicht ausreichend). Nur, Soldaten sind keine besseren Menschen. Und der Respekt ihrer Arbeit gegenüber bedeutet nicht, dass ich ihren Einsatz irgendwo in der Welt für gut und richtig befinden muss! Und das bedeutet sowieso nicht, dass ich Krieg für richtig befinden muss!

Und, lieber Herr Gauck, solange Deutschland zu den größten Rüstungsexporteuren der Welt gehört, solange bleibt eine noch so gut gemeinte militärische „Hilfe“ scheinheilig. Ob wir in den Irak schauen, nach Afghanistan oder nach Libyen, alle bösen Unterdrücker und Diktatoren haben immer auch Waffen aus den „freiheitsliebenden“ westlichen Industrienationen gehabt – die USA vorne weg und wir Deutschen oft nicht weit dahinter – leider!

Nachtrag

Dieser kurze Kommentar wurde vor allem von den Beiträgen von Albrecht Müller in den NachDenkSeiten inspiriert. Deshalb möchte ich allen Leserinnen und Lesern ans Herz legen, auch diese Beiträge zu lesen:

Worte des Bundespräsidenten: Ekelhaft und geschichtsvergessen“ vom 12. Juni 2012

Nachtrag zum kritischen Beitrag über die Worte des Bundespräsidenten zu Militäreinsätzen“ vom 13. Juni 2012

Und ganz besonders auch:

„Nie wieder Krieg“– Diese Einsicht soll offensichtlich endgültig der Vergangenheit angehören. Eine Art Wochenrückblick.“ vom 15. Juni 2012

In diesem jüngsten Beitrag ist vor allem das dort wiedergegebene Leserecho wichtig und interessant.

Ergänzung vom 18. Juni 2012:

Derzeit fehlt mir leider die Zeit, meine Kritik und damit verbundene Hinweise für das Denken ausführlicher darzulegen. Allerdings halte ich das Thema für so wichtig, dass es hier eben nicht unkommentiert bleiben sollte. Der Vorteil vom Internet ist dann ja der, dass für die ausführlichere Kritik auf passend erscheinende Beiträge anderer Menschen verwiesen werden kann. Das möchte ich deshalb hier nochmals tun. Der Aufsatz „Wenn sie uns vorsterben wollten“ von Holdger Plata im Spiegelfechter übt einige passend erscheinende Kritik und gibt einige bedenkenswerte Hinweise.

Das einleitende Zitat von Kant kam ebenfalls erst am 18. Juni hinzu.

Quellen und Verweise

Außerdem war das Thema „Deutschland und der Krieg“ schon mehrfach Thema im Ostfalen-Spiegel. Die zugehörigen Beiträge liefern entsprechend weitere Informationen, Quellen und Hinweise wie auch weitere Klarheit in meinem zugrundeliegenden Standpunkt:

I. Tapfer sterben …“ – Gedanken zum Zeitgeist (Juni 2010)

Eine mit Gewalt imprägnierte Gesellschaft“ – Buch-Rezension (Juni 2010)

#3 Der Marsch in die Vergangenheit“ – Denk-Anstoß #3 (Dezember 2011)

Die Revitalisierung militärisch geprägter Außenpolitik“ – Hinweise (Januar 2012)

Amnesty startet Kampagne für effektive Kontrolle des internationalen Waffenhandels“ – Amnesty International Pressemitteilung (März 2012)

und zahlreiche weitere Meldungen zum Stichwort „Rüstungsexprote“

Außerdem wichtig im Ostfalen-Spiegel:

V. Begründung einer Hoffnung“ – Gedanken zum Zeitgeist – 62. Jahre Gundgesetz (Mai 2011)

Hintergrund:

Redetext des Bundespräsidenten

YouTube-Video vom Antrietsbesuch und der Rede des Bundespräsidenten

Zumach, Andreas: „Waffen Boom trotz Krise – wegen knapper Kassen sparen Regierungen an allen Enden – nur nicht bei der Rüstung“ Greenpeace-Magazin 4.12, S. 20 ff. (http://www.greenpeace-magazin.de/). – In diesem Artikel, der sich auf Zahlen des Stockholmer Friedensforschungsinstituts (SIPRI) stützt, wird Deutschland auf Rang 3 der größten Rüstungsexporteure weltweit gesetzt!

http://de.wikipedia.org/wiki/Waffenexport

http://de.wikipedia.org/wiki/Joachim_Gauck

http://de.wikipedia.org/wiki/Hedonismus

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Dezember 4

#3 Der Marsch in die Vergangenheit?

Der Marsch in die Vergangenheit?

Gefährliche Tendenzen in Politik und Bundeswehr

Denk-Anstoß #3 – im Ostfalen-Spiegel

Von Rainer Elsner

Wolfenbüttel, 04.12.2011 (update 05.12.2011). Das Dossier, ein „Portal für kritischen Journalismus“, wie es sich selbst überschreibt, hat in den vergangenen Tagen in seiner Presseschau zwei Beiträge über die militärisch gestützte Außenpolitik Deutschlands veröffentlicht. Ende November wurde ein Feature des Deutschlandfunks vorgestellt, welches sich in diesem Zusammenhang vor allem mit dem Kundus-Bombardement beschäftigt und sehr bedenklich stimmende Einsichten liefert. Am 3. Dezember wurde dann auf einen Beitrag in der Zweiwochenschrift Das Blättchen verwiesen. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Zunahme der Bedeutung der Kriegsmarine bei den Militärs. In diesen Hinweisen des Dossiers wird hervorgehoben, dass eine Tendenz zu erkennen ist, die Außenpolitik und hierfür auch die Bundeswehr auf Leitbilder „einzuschwören“, die einer vordemokratischen Denkungsart folgen.

Krieg wieder als legitimes Mittel der Außenpolitik etablieren

Diese Beiträge sind Anlass, auch an dieser Stelle auf dieses wichtige Thema hinzuweisen. Denn die genannte Tendenz ist deutlich zu erkennen. Es scheint einfacher – und vor allem gewinnbringender zu sein -, den Krieg wieder als legitimes Mittel der Außenpolitik zu etablieren. Die Ursachen für gewaltsame Konflikte oder zum Beispiel Piraterie zu suchen und dann an deren Beseitigung menschlich verantwortungsvoll zu arbeiten, bringt eben keine schnellen Gewinne. Außenpolitik mit dem Kanonenboot aber ist vordemokratisch. Und für eine solche Politik sind bedingungslos gehorsame Soldaten und Soldatinnen notwendig, die ihren Eid dann ähnlich manch verantwortlicher Politikerinnen und Politiker nur noch als notwendige Formalie und letztlich also hohle Phrase anzusehen scheinen. – Sind wir also tatsächlich auf einem solchen Weg?

„die wirtschaftlichen Interessen von Deutschland durchsetzen“

2010 musste der damalige Bundespräsident Horst Köhler noch zurücktreten, als er ungeschickterweise (?) diese neue Ausrichtung in Außen- und Sicherheitspolitik ausgesprochen hatte. Das genau dieses Denken mittlerweile aber Einzug in die Köpfe der Menschen in unserem Land hält, zeigt zum Beispiel auch ein Leserbrief, der jüngst in der Braunschweiger Zeitung zu finden war. Der eigentliche Inhalt des Leserbriefes war die Kritik an der Berichterstattung zur angeblichen Waffenausbildung von Neonazis auch in Reservisten-Kameradschaften (was hier nicht das Thema ist). Die im Zusammenhang mit der Änderung der Leitbilder interessante Aussage in dem Leserbrief aber lautet: „… die Frauen und Männer, die für unser Land auf politische Entscheidung unter anderem auch am Horn von Afrika, »Handelsrouten für Europa«, die wirtschaftlichen Interessen von Deutschland durchsetzen.“* Erst in einem zweiten Satz werden dann noch Rechte und Freiheiten genannt.

Mit dem beeideten Auftrag der Bundeswehr hat das nichts mehr zu tun

Möglicherweise hat der Autor des Leserbriefes seine Aussage nicht überdacht. Aber auch das wäre dann ja ein Ausdruck eines Einzugs dieser vordemokratischen Leitbilder in das Denken der Menschen. Mit dem beeideten Auftrag der Bundeswehr, „Recht und Freiheit“ der Bundesrepublik Deutschland „tapfer zu verteidigen“ hat das Durchsetzen von wirtschaftlichen Interessen aber wenig bis nichts mehr zu tun. Recht und Freiheit gründen im Grundgesetz. Und das verpflichtet „alle staatliche Gewalt“, also selbstverständlich auch die Bundeswehr, „die Würde des Menschen … zu achten und zu schützen“. Alles Wesentlich dazu findet sich in Artikel 1 des Grundgesetzes! Einen Hinweis darauf, dass sicher nicht alle Soldatinnen und Soldaten diesen „neuen Leitbildern“ folgen wollen und werden, gibt da zum Glück der seit 1983 aktive Arbeitskreis Darmstädter Signal, einem „kritischen Forum für Staatsbürger in Uniform“, wie der Arbeitskreis sich selbst bezeichnet.

Weitere Informationen:

Die mp3-Datei bitte unbedingt anhören (re)!

*Leserbrief „Reservisten benötigen keine Waffen“ in Braunschweiger Zeitung vom 02.12.2011, S. 32 (Hervorhebungen im Original).

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März 20

Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft

Buchvorstellung

Hannah Arendt

Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.

Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft.

Ungek. Taschenbuchausg.

11. Aufl.

München: Piper, 2006 [(1) 1951].

Taschenbuch, 1015.

ISBN-13 978-3-492-21032-4

„Menschlich müssen wir weitgehend Verantwortung auch für das übernehmen, was Menschen ohne unser Wissen und Zutun irgendwo in der Welt verbrochen haben; sonst gäbe es keine Einheit des Menschengeschlechts. Wir können es, weil uns gerade die spezifisch bösen Motive oder die spezifisch berechnete Zweckmäßigkeit der Handlung menschlich einsichtig ist.“[1]

Kurzbeschreibung aus dem Buch

Unter dem Eindruck des Holocaust, der nationalsozialistischen Vernichtung des europäischen Judentums, hat Hannah Arendt mit ‚Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft‘ – zuerst 1951 in New York erschienen, in deutscher Übersetzung 1955 – zugleich eine Geschichte und eine Theorie des Totalitarismus geschrieben. Hier hat sie „die allgemein gültige Vorstellung vom monolithischen Charakter des Dritten Reiches erschüttert und auf die eigentümliche Strukturlosigkeit totaler Regierungen hingewiesen. Hannah Arendt analysiert den Nationalsozialismus und den Stalinismus als verwandte Herrschaftstypen und als Folgeerscheinungen von Antisemitismus und Imperialismus.“ (Deutschlandfunk)

Autorinnenportrait aus dem Buch

Hannah Arendt, am 14. Oktober 1906 in Hannover geboren und am 4. Dezember 1975 n New York gestorben, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Heidegger, Bultmann und Jaspers, bei dem sie 1928 promovierte. 1933 Emigration nach Paris, ab 1941 in New York. 1946 bis 1948 Lektorin, danach als frei Schriftstellerin tätig. 1963 Professorin für Politische Theorie in Chicago, ab 1967 an der New School for Social Research in New York.

Umschlagtext

»Es liegt am Menschen und nicht an einem dunklen Verhängnis, was aus ihm wird. Weil die Einsicht unsere politische Denkungsart klärt und dadurch erneuert, ist das Buch geschrieben. Es macht keine Vorschläge und gibt keine Programme. Denn es will als solches nur historische Erkenntnis.

Daher halte ich dieses Buch für Geschichtsschreibung großen Stils.«

Karl Jaspers

[1] Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Ungek. Taschenbuchausg. 11. Aufl. München: Piper, 2006 [(1) 1951], S. 946.

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März 11

IV. Mehr Schein als Sein

Mehr Schein als Sein

oder

Verantwortung verpflichtet!

Gedanken zum Zeitgeist IV – im Ostfalen-Spiegel

Von Rainer Elsner

Verantwortung verpflichtet! So ist die Internetseite von Herrn Freiherr Karl-Theodor von und zu Guttenberg überschrieben. Aber hat sich dies in der Affäre um seine Doktorarbeit widergespiegelt – sowohl bei ihm als auch im öffentlichen Umgang damit? Wofür steht diese Affäre möglicherweise stellvertretend? Zählt der Schein heute mehr als das Sein? Was an dieser Affäre ist für unsere freiheitliche und demokratische Gesellschaft von – vielleicht sogar fundamentaler – Bedeutung? Zur Diskussion über solche Fragen will dieser Kommentar anregen. Dabei geht es nicht allein um die Person Guttenberg, sondern vielmehr um sich in der Affäre spiegelnde Denkhaltungen und deren gesellschaftliche Bedeutung. Für deren Verdeutlichung muss dann aber eben das Verhalten des Herrn zu Guttenberg beispielhaft näher betrachtet werden!

Verantwortung verpflichtet! Und die Übernahme von Verantwortung setzt Charakter und Verantwortungsbewusstsein voraus. Also sollten wir in den entsprechenden Positionen von Politik und Wirtschaft beides vermehrt antreffen. Und wache Bürgerinnen und Bürger sollten die Trägerinnen und Träger von Verantwortung auch entsprechend beobachten und beurteilen. Für den gesunden Menschenverstand eine Schlüssige Annahme, oder? – Aber weit gefehlt! Denn die nähere Betrachtung der Plagiatsaffäre um den ehemaligen Verteidigungsminister Karl-Theodor von und zu Guttenberg zeigt leider in Teilen der Öffentlichkeit einen ganz anderen Umgang. Somit ist dieses Ereignis beispielgebend dafür, wie weit unserer gesellschaftliches Wertesystem und das damit verbundene Verantwortungsbewusstsein möglicherweise schon wieder verfallen sind. Mancherorts zählt mehr Schein als Sein, geübte Blender werden mehr geachtet als unscheinbar aber verantwortungsbewusst tätige Menschen. Dr. Helmut Kohl sprach vor seiner „Machtübernahme“ von einer geistig-moralischen Wende – geschafft!? Nun, angesichts mancher merkwürdigen Bewertung dieses Ereignisses oder auch anderer öffentlicher Darbietungen scheint sich diese Wende im Denken nicht weniger Menschen tatsächlich vollzogen, vielleicht sogar bereits manifestiert zu haben.

Ich habe früher in der Schule auch abgeschrieben

„Ich weiß gar nicht, was die haben, ich habe früher in der Schule auch abgeschrieben! Der Herr von und zu Guttenberg ist doch so ein gut aussehender freundlicher Mann – und der hat auch so eine schöne Frau an seiner Seite!“ – So oder ähnlich lauten die Kommentare, die wir in den ersten Tagen der Affäre im Radio von Moderatorinnen und Moderatoren hörten oder die wir in der Presse lesen konnten in Bezug auf die Plagiatsvorwürfe gegen Herrn zu Guttenberg. So etwas sendete hier in Niedersachsen der private Radiosender FFN genauso wie der öffentlich-rechtliche Sender NDR2 – und anderswo in Deutschland wird es nicht anders gewesen sein. Letzterer (NDR2) lässt so etwas nicht nur seine Moderatoren sagen, sondern kreiert dazu sogar extra eine Folge der Comedy-Serie „Frühstück bei Stefanie“ – von Rundfunkgebühren bezahlt, die nicht zuletzt erhoben werden, um die Bildung und die Informationsfreiheit für uns Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten! Dem wachen, vernünftigen und verantwortungsbewussten Menschen dreht sich dabei der Magen um! „Freiherr ist doch sowieso mehr“ geht es dann weiter. Im Falle dieses Beitrages mag ein Hinweis auf die Ironie ja noch stimmen. Allerdings wird die von vielen Menschen gar nicht mehr erkannt, sondern das wird tatsächlich wieder so gedacht. Es ist richtig, dass es ein „oben“ und ein „unten“ gibt. Wenn jemand es schafft, eine schöne Fassade aufzubauen oder gar „blaues Blut“ in seiner Adern fließt, dann hat der ja ohnehin mehr Würde; „die Reichen und Schönen“ sind ja so bewundernswert! wird tatsächlich geglaubt. „Oh, heute hat der Chef mit mir gesprochen!“ gilt als die höchste Ehre. – „Der Auszug aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“[1] (Kant) hat leider noch immer nicht stattgefunden! Nun gehört es zur Freiheit des Menschen auch, dumm zu sein und dumm zu bleiben. Doch für eine Gesellschaft und somit letzten Endes auch für einzelne Menschen („dumme“ wie „schlaue“) kann diese Beschränktheit schlimme Folgen haben! Wer in der Schule Geschichte lückenlos bis zur Gegenwart gelernt und dabei aufgepasst hat, müsste dies wissen! Der folgende Satz von Hannah Arendt mag dann zusätzlich zum Denken anregen:

„… der Stolz eines Bürgers einer Republik ist [es], nicht mehr zu gelten in öffentlichen Angelegenheiten als irgendein anderer Bürger – dies ist seine »Tugend« – … wenn man in einer Republik nicht mehr weiß, was Tugend ist, … so geht [diese] … ihrem Ende entgegen.“[2]

Charakterschwäche

Für einen Herrn Guttenberg entwickeln die Menschen dann plötzlich ein Mitgefühl. Das tägliche Leid Millionen von Menschen in der Welt oder auch nur das Pech des Nachbarn prallt an ihrer Einfühlsamkeit ab, aber der „arme“ Minister tut ihnen dann plötzlich leid. Dabei ist die Schicksalsverantwortung eigentlich ganz anders verteilt. Aber dennoch lachen die Menschen tatsächlich, über die Menschen, die sich aufregen und über Menschen, die Pech haben und … Schlichte Gemüter, die sich nicht bewusst sind, wohin wir schon wieder unterwegs sind? Vielleicht, aber es geht durch alle Bildungsschichten! Und Menschen, denen ein smart wirkendes Auftreten und eine schöne Fassade mehr wert ist als Ehrlichkeit, die haben mindestens, wie es scheint, eine Charakterschwäche – sowohl die, die sich so geben, als auch die, die so etwas bewundern! Wobei den Bewunderern vielleicht noch ihr einfacher Geist zu Gute gehalten werden können mag oder dass sie es schlicht nicht sofort als nur schöne Fassade erkennen. Allerdings frei nach Kant: die Anlage zum eigenständigen Denken haben wir alle mit der Geburt bekommen. Aufgabe einer freien Gesellschaft ist es dann, diese Anlage zu fördern – durch Bildung, die Vermittlung von Wissen und die Charakterbildung. Und da hat unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten versagt. Mit Willy Brandt als Bundeskanzler begann eine kurze Ära, in der dieses Ideal ganz bewusst angestrebt wurde. Schon gut zehn Jahre später, 1982, begann ein Ära, die noch immer andauert, in der dieses Ideal und seine realen Folgen allem Anschein nach bewusst untergraben und zerstört wurden und werden – zum Machtausbau und Machterhalt! Und viele Journalistinnen und Journalisten arbeiten heute fleißig daran mit. Angefangen hat das früh schon mit einem bekannten Boulevard-Blatt, fortgesetzt hat sich das dann mit der Einführung des privaten Rundfunks und privaten Fernsehens und erreicht wurden mittlerweile auch die öffentlich bezahlten Medien, die ja inzwischen auch ohne Probleme mit der bekannten Boulevardpresse zusammenarbeiten. In vor allem privaten Fernsehsendungen wird beispielsweise gefeiert, wie sich Menschen wie du und ich öffentlich bloßstellen oder wie diese öffentlich bloß gestellt werden. Haben wir gelacht! Merkwürdige Castingshows sind interessanter als ein anspruchsvoller Spielfilm. Und mit der Übertragung von Boxkämpfen in ARD und ZDF wird nach meinem Empfinden Gewaltanwendung auch noch als Sport kultiviert. Die Einschaltquote bei der Übertragung der königlichen Hochzeit in London wird dann andeuten, wie viele Menschen auch hierzulade doch gerne wieder einen König (vielleicht einen von und zu Guttenberg?) hätten. Hurra, wir verblöden! Die tendenzielle Tragweite dieser noch um viele Beispiele erweiterbaren Entwicklung scheint vielen nicht bewusst zu sein, gefährlich ist sie dennoch!

„… Wir wollen mehr Demokratie wagen. … Wir wollen eine Gesellschaft, die mehr Freiheit bietet und mehr Mitverantwortung fordert. …“

Willy Brandt [3]

Titel, dessen blendenden Schein ich für meine Karriere in Politik und Wirtschaft benötige

Zurück zum aktuellen Beispiel. Es ist sehr wohl ein himmelweiter Unterschied, ob ein Kind oder ein Heranwachsender in der fünften oder siebten Klasse in einer Klassenarbeit abschreibt, oder ob ein erwachsener und gereifter (?) Mensch die „höchsten Weihen“ anstrebt, die unser Bildungssystem zu vergeben hat (beides ist zwar eine Verfehlung, aber das Kind findet noch zu sich als Person). Und das ist erstrecht ein Unterschied in einer Gesellschaft, in welcher Menschen mit Titel für besonders gehalten werden (was sie als Menschen nicht sind!). Und wirklich finster wird es, wenn es „ja nicht so schlimm“ sein soll, dass dies von einem Inhaber eines hohen Staatsamtes gemacht wurde. Ein Amt auch noch, in dem dieser Mensch die Verantwortung für viele andere Menschen trägt, die täglich das Leben wieder anderer Menschen und ihr eigenes Leben riskieren. Da fehlen einem schlicht die Worte! Jeder Student bekommt schon seine Hausarbeit „um die Ohren geschlagen“, wenn er sich nicht die Mühe macht, die Arbeit selbst zu verfassen, sondern sie abschreibt (vorausgesetzt sein Dozent merkt dies!)! Aber bei einem Minister soll dies nicht so schlimm sein? Jeder und jede, die wissenschaftlich arbeiten gelernt haben, weiß um die Sträflichkeit einer solchen Arbeitsweise. Und das hat ja auch einen Sinn. Wer den Doktor anstrebt, strebt eigentlich an, die Wissenschaft voran zu treiben (und idealer Weise nicht allein den Titel!). Und dafür erbringt er oder sie in der Doktorarbeit einen entscheidenden, besonderen Anteil. Und dazu gehört ein gewissenhaftes Arbeiten! Wenn es mir aber ohnehin nur um einen Titel geht, dessen blendenden Schein ich für meine Karriere in Politik und Wirtschaft benötige, dann muss ich mich ja nicht mit solchen „Kleinigkeiten“ aufhalten, oder? Mit Nichten! Denn eine solche Arbeitsweise ist ja nicht allein in der Wissenschaft (was aber auch allein sträflich wäre) untragbar, sondern ja wohl in jedem Arbeitsfeld. Kaum jemand würde sich gerne in ein Auto setzen, was mit einer solchen Denkhaltung montiert wurde. Sowohl dem so handelnden als auch den dieses Handeln Tolerierenden fehlt es einfach an einem Unrechtsbewusstsein und folglich auch an Verantwortungsbewusstsein!

Als Spross einer alten Adelsfamilie sind einem zunächst enge Grenzen gesetzt

Bei Herrn Guttenberg zeigt ein kurzer Blick in den entsprechenden Wikipedia-Eintrag (mit einem Verweis auf das ARD-Politik-Magazin Panorama) interessanterweise, dass dieser ohnehin zu Übertreibungen in seinem Lebenslauf neigt. – Soziologisch und psychologisch betrachtet können wir für das Verhalten von Herrn von und zu Guttenberg vielleicht sogar Erklärungen und somit „Entschuldigungen“ finden, denn als Spross einer alten Adelsfamilie sind einem vielleicht doch zunächst enge Grenzen gesetzt. Aber das ändert nichts an der politischen und moralischen Bewertung! Für Herrn Guttenberg bleibt zu wünschen, dass er diesen Einschnitt in sein Leben nutzt, um seine Denkungsart als Mensch (!) kritisch zu hinterfragen.

„Das junge Volk bildet sich ein,
Sein Tauftag sollte der Schöpfungstag sein.
Möchten sie doch zugleich bedenken,
Was wir ihnen als Eingebinde schenken.“

Johann Wolfgang von Goethe [4]

Die Kunduz-Affäre

Vor dem Hintergrund des Umgangs von Guttenberg mit der berechtigten Kritik an seiner Doktorarbeit erscheinen auch die schon fast in Vergessenheit geratene Kunduz-Affäre und auch seine bemühte Nähe zu den Soldaten in einem neuen Licht. In der Kunduz-Affäre hat Herr Guttenberg seinen Staatssekretär und den Generalinspekteur der Bundeswehr Schneiderhan entlassen, weil sie ihn angeblich unvollständig unterrichtet hätten. Der entlassene General, dem als Offizier wohl ein besonderes Pflichtbewusstsein zugesprochen werden kann und der eine solche Unterstellung sehr wahrscheinlich als ehrverletzend ansieht, versichert, dem Minister keine Informationen vorenthalte zu haben! Damals wie heute scheint ein immer gleiches Verhalten erkennbar zu sein. Erst wird forsch vorgeprescht und Aktionismus gezeigt, dann folgt ein langsames Rückwärtsgehen, in dem Fehler entweder anderen zugeschrieben, als geringfügig dargestellt oder als nun mal nicht vermeidbar abgetan werden. Erst, wenn es gar nicht mehr anders geht, werden sie eingestanden – soweit notwendig.

Guttenberg versteckt sich hinter seinen Soldaten

Und besonders unerträglich erscheint es nun auch, wenn sich Herr Guttenberg dann noch in seiner Rücktrittsrede darüber beschwert, dass die Berichte über seine Verfehlungen in den Medien den Tod und die Verwundung deutscher Soldaten in Afghanistan in den Hintergrund treten ließen. Da sind wir wieder bei der Frage nach der Verantwortung angekommen. Herr zu Guttenberg versteckt sich hinter seinen Soldaten! Was macht Herr von und zu Guttenberg mal wieder, als die Affäre langsam „hochkocht“ (kurz vor dem tragischen Tod der Soldaten)? Er fliegt schnell zu einem medienwirksamen Front-Besuch nach Afghanistan. So wie er den Afghanistan-Krieg immer wieder gern für medienwirksame Auftritte genutzt hatte – bis hin zu einer Fernsehshow zusammen mit seiner Frau Stephanie und Moderator Johannes B. Kerner. Hauptsache ein edler Schein bleibt gewahrt. An all das mögen bitte alle Soldatinnen und Soldaten denken, die jetzt ihrem Minister nachtrauern! Denn die Presse hat in unserer Demokratie den Auftrag, der Politik kritisch auf die Finger zu schauen. Ein verantwortungsbewusster Verteidigungsminister hätte den Vorgang abgekürzt, indem er seine Fehler sofort öffentlich eingestanden und seine Konsequenzen gezogen hätte. Dann hätte die Presse auch dem tragischen Tod der Soldaten und der Verwundung ihrer Kameraden wieder mehr Raum schenken und damit dies angemessener würdigen können.

„… so besteht stets die Möglichkeit, daß sich das Erscheinende schließlich, indem es verschwindet, als bloßer Schein herausstellt.“

Hannah Arendt [5]

Die promovierte Physikerin Merkel lässt weit blicken

Damit sind wir aber noch nicht am Ende. Zu Recht und zum Glück gab es einen breiten Aufschrei aus der Wissenschaft! Denn wenn Herr Guttenberg damit durchgekommen wäre, hätte der gesamte deutsche Wissenschaftsapparat darunter gelitten. Die Würdigung deutscher Promotionsverfahren ist nicht Gegenstand dieses Kommentars, auch wenn diese bei der Doktorwürde des Ex-Ministers auch eine Rolle gespielt haben. Wenn es aber bei einer deutschen Doktorarbeit nicht mehr auf die Genauigkeit und Wahrhaftigkeit ankommt, dann verliert die gesamte Wissenschaft an Glaubwürdigkeit. Am Ende zählt ein deutscher Abschluss nichts mehr. Und auch eine fundierte kritische Auseinandersetzung mit Problemen wie zum Beispiel dem Atommüllendlager in der Asse bei Wolfenbüttel ist nicht mehr möglich, da es keine glaubwürdigen Wissenschaftler mehr gibt. Dass die promovierte Physikerin Merkel dann sagt, sie hätte einen Minister und keinen wissenschaftlichen Mitarbeiter eingestellt, lässt weit blicken – ihr Wissenschaftsverständnis betreffend, die charakterlichen Anforderungen für verantwortliche Ministerinnen und Minister betreffend und auch ihr eigenes Verantwortungsbewusstsein betreffend!

„… Wahrhaftigkeit im Inneren des Geständnisses vor sich selbst und zugleich im Betragen gegen jeden Anderen, sich zur obersten Maxime gemacht, ist der einzige Beweis des Bewußtseins eines Menschen, daß er einen Charakter hat …“

Immanuel Kant [6]

Vor dem Hintergrund der gesamten Affäre scheint es für alle verantwortungsbewussten Menschen ratsam, über die Tragweite der den beschriebenen Vorgängen zugrunde liegenden Denkhaltung von Menschen und Gesellschaft nachzudenken. Besonders betrachtenswert scheinen die Menschen, die so handeln ebenso wie die Menschen, die dies Handeln gutheißen; die Medien, allen voran die bekannte Boulevardpresse, die ihrer primären Aufgabe, der kritischen Begleitung von Politik und Wirtschaft, nicht gerecht werden; und Menschen überhaupt, die sich lieber vom schönen Glanz blenden lassen, als den eigenen Verstand zu benutzen.

Ergänzend sei hier noch angemerkt, dass die bekannte Boulevardpresse den Minister „hochgeschrieben“ und die Plagiatsvorwürfe zunächst schöngeredet hat und das diese Presse zugleich vom Verteidigungsministerium mit einer umsatzstarken Werbekampagne für dringend benötigte Freiwillige beauftragt wurde.

Für Reflexion und Diskussion ist eine kritische Betrachtung notwendig

Abschließend betone ich aber wieder, dass es nicht um die Forderung nach „Unfehlbarkeit“ geht! Auch soll dies keine abschließende Verurteilung von Herrn Guttenberg sein. Das ist die Aufgabe der betroffenen Hochschule, der zuständigen Gerichte und mit der gebotenen menschlichen Rücksichtnahme die eines jeden Bürgers und einer jeden Bürgerin für sich. Aber für die Reflexion und eine Diskussion dieser Vorkommnisse und der damit verbundenen Denkhaltung ist eine kritische Betrachtung notwendig und zulässig. Verfehlungen begeht jeder Mensch! Bei der Beurteilung dieser Verfehlungen spielen dann sicher auch Absicht und Tragweite, also die Folgen, eine Rolle. Wie es scheint, kann mittlerweile wohl eine Absicht unterstellt werden. Das hieße dann aber, dass ein erwachsener Mann, der bereits eine Position mit gesellschaftlicher Verantwortung bekleidete, wie ein Schüler abgeschrieben hat. Und die tendenzielle Tragweite (in diesem Beispiel wahrscheinlich nicht die in vollem Umfang beabsichtigte) wurde zuvor zumindest in Teilen beschrieben. Eine große Verantwortung setzt auch einen starken und ehrlichen Charakter voraus. Wer sich der Verantwortung verpflichtet fühlt, muss dieser auch jederzeit eindeutig versuchen gerecht zu werden und auch eindeutig versuchen entsprechend zu handeln. Wie schon im alltäglichen Umgang von Menschen miteinander, Freunde, Nachbarn, Verkäufer, Kunden usw., so sollten auch und erstrecht in Verantwortungspositionen der Gesellschaft Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit vorrangige Tugenden sein. Doch wenn Politik, Wirtschaft und Medien mit solchen Beispielen voran gehen, wen wundert dann noch der „alltägliche“ Versicherungsbetrug? – um nur ein Beispiel für leider sehr verbreitete Verfehlungen zu nennen. Es fragt sich also, was den Blender zum Blenden treibt ebenso wie, warum sich heute wieder viele Menschen so gerne blenden lassen? Vielleicht sollte nicht nur Herr Guttenberg seine Denkungsart hinterfragen? Charakterbildung ist eine Aufgabe, vor der sich jeder Mensch irgendwann wiederfindet – dies wird nur leider häufig nicht erkannt. Alle zusammen sollten wir uns in jedem Fall aber in allen Bereichen unserer Lebenswelt wieder um mehr Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit bemühen!

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Weitere Informationen:

Ein interessanter Kommentar zu Guttenbergs Rücktritt findet sich auf den NachDenkSeiten mit dem Titel „Guttenbergs unaufrichtiger Rücktritt

Was hinter der Guttenberg-Affäre verschwindet zeigt ein anderer Beitrag der NachDenkSeiten: „Die Hauptsache verschwindet hinter dem Getöse um Guttenberg: der Ausbau der Bundeswehr zu einer Interventionsarmee, auch zur Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen

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Quellen

[1] Kant, Immanuel: “Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?”, Berlinische Monatsschrift 4 (1784), S. 481-494. Zitiert nach Kant, Erhard, Hamann u. a.: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart: Reclam, 1992, S.9 [auch Projekt Gutenberg].

[2] Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Ungek. Taschenbuchausg. 11. Aufl. München: Piper, 2006 [(1) 1951], S. 959 f. [Hervorhebung i. Orig.].

[3] Brandt, Willi: Regierungserklärung 1969 (http://www.bwbs.de/UserFiles/File/PDF/Regierungserklaerung691028.pdf).

[4] Goethe, Johann Wolfgang von: Sämtliche Werke. Band XIV. Lyrische und epische Dichtungen. Band I. Hrsg. von Hans Gerhard Gräf. Druck des 27. Bis 29. Tausends von Breitkopf & Härtel in Leipzig. Leipzig: Inselverlag, [o. J.], S. 590 [Scan (Digitalisierung) des Buches zu finden im Internet Archive unter: http://www.archive.org/stream/leipsmtlichew14goetuoft/leipsmtlichew14goetuoft_djvu.txt].

[5] Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes: Das Denken: Das Wollen. Hrsg. V. Mary McCarthy. A. d. Amerik. V. Hermann Vetter. Ungek. Taschenbuchausg. 2. Aufl. München: Piper, 2002 [(1) 1971], S. 47 [Hervorhebung i. Orig.].

[6] Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Hrsg. u. eingel. V. Wolfgang Becker. M. e. Nachw. V. Hans Ebeling. Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1983 [(1) 1798], S. 245 [auch: http://www.korpora.org/Kant/aa07/295.html].

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Gedanken zum Zeitgeist

In den Gedanken zum Zeitgeist erscheinen in loser Folge kritische Kommentare zur aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Deutschland und der Welt. Die einzelnen Gedanken zum Zeitgeist fokusieren in der Regel ein Thema und setzen auch unterschiedliche Schwerpunkte.  Grundsätzliche Standpunkte wie auch der philosophische Unterbau werden dabei nicht jedes Mal neu dargelegt. Für ein besseres Verständnis der Basis der geäußerten Kritik ist es also sinnvoll, nach und nach alle Gedanken zum Zeitgeist zu lesen und auch die Seite Ostfalen-Spiegel.

I. Tapfer sterben für …

II. Der Finger in der Wunde

III. Die Demokratie lebt vom Diskurs

IV. Mehr Schein als Sein

V. Begründung einer Hoffnung

VI. Wer das Geld hat –

VII:.…

Dezember 12

Ein Abend im Advent

Ein Abend im Advent

Eine besinnliche Erzählung aus der Weihnachtszeit

von Rainer Elsner

Veröffentlicht im Ostfalen-Spiegel – Wolfenbüttel im Dezember 2010

Als PDF

Die Dunkelheit der herannahenden Nacht hat das spärliche Licht des Tages bereits verdrängt, als der dreizehnjährige Tom mit seiner zwei Jahre jüngeren Schwester Lisa an der Bushaltestelle ankommt. Die Kinder waren bei einer Weihnachtsfeier ihres Sportvereins. Seit den Morgenstunden fallen ohne Unterlass weiße Flocken vom Himmel. Langsam verwandelte der Schnee das triste Grau des Novembers in das strahlende Weiß des Dezembers. Überall in den Fenstern und an den Häusern glänzen die Lichter des Advents. Auch die Augen von Tom und Lisa glänzen beim Anblick der weiß-goldenen Pracht.

Während die beiden Kinder auf den Bus warten, quält sich der späte Feierabendverkehr langsam vorbei. Die glatten Straßen rauben den Fahrern die Freude an der Schönheit dieses Abends. Aber wer sich nicht auf das Fahren konzentrieren muss, wird von den Gedanken an das nahe Weihnachtsfest ergriffen. Es vergeht eine halbe Stunde, aber kein Bus ist in Sicht. Tom wird langsam unruhig. Zuerst toben beide noch im frischen Schnee, doch nun bemerken sie langsam die Kälte. Besonders Lisa fängt an, sich über kalte Füße zu beschweren.

„Warum hast du bloß dein Handy vergessen?“ stichelt Lisa ihren Bruder, „jetzt müssen wir hier erfrieren, weil wir Mama nicht anrufen können“.

Der stimmt ihr innerlich zu, will sich diese Blöße aber nicht geben und sagt deshalb unfreundlicher, als er es eigentlich wollte:

„Reiß du dich doch einfach mal zusammen! Kaum wird es ungemütlich, da muss die kleine Prinzessin schon Meckern. Aber Meckern hilft nicht!“

Das ist für Lisa zu viel. Immer muss ihr Bruder sie spüren lassen, dass er doch schon so groß und ernst ist. Dabei ist ihr einfach nur kalt! Eingeschnappt dreht sich Lisa um und setzt sich stumm auf die eiskalte Bank im Haltestellenhäuschen. Tom schaut zu seiner Schwester und bekommt ein schlechtes Gewissen. Sie hat ja Recht. Wenn er sein Handy nicht zu Hause vergessen hätte, könnten sie jetzt ihre Mutter anrufen und sich abholen lassen. Tom überlegt und sagt schließlich:

„Lisa, wir gehen zu Fuß.“

Lisa reagiert nicht, sondern schaut weiter stumm in den frisch gefallenen Schnee.

„Lisa, du hast Recht“ gibt er klein bei, „aber wir müssen uns bewegen“.

„Aber das ist doch viel zu weit“ erwidert Lisa bestürzt und springt auf.

„So weit ist das gar nicht, und wenn wir hier noch länger stehen, erfrieren wir wirklich“ erklärt Tom seiner Schwester.

„Aber ich will nicht den ganzen weiten Weg laufen“ rebelliert das Mädchen und dreht sich wieder bockig weg.

Behutsam fasst Tom nun seiner kleinen Schwester auf die Schulter und sagt ruhig:

„Lisa, entschuldige bitte, dass ich eben so schroff war zu dir! Vielleicht können wir ja von irgendwo Mama anrufen. Dann holt sie uns bestimmt ab. Aber lass uns erst mal ein Stück gehen.“

Lisa ist zwar gerne schnell eingeschnappt, aber sie ist nicht dumm. Wenn auch widerwillig, folgt sie ihrem großen Bruder. Langsam gehen die Kinder auf dem verschneiten Bürgersteig in Richtung Stadtmitte. Ihr Ziel liegt auf der anderen Seite der kleinen Stadt. Sie sind noch nicht weit gekommen, als sie vor einem kleinen Fachwerkhaus eine vermummte Gestalt sehen. Im Halbdunkel räumt das irgendwie unheimlich wirkende Wesen den Gehweg vom Schnee frei. Das erscheint aber eigentlich sinnlos, denn der Schnee bedeckt sofort wieder die gerade befreite Fläche. Etwas ängstlich gehen die Kinder an der Gestalt vorbei, denn sie ähnelt in gewisser Weise der Hexe aus Hänsel und Gretel – zumal vor dem kleinen gedrungenen Häuschen. Auch dem großen Tom ist irgendwie mulmig zu mute. Als sich die Kinder schon fast in Sicherheit wiegen, spricht die Hexe sie an:

„Ach Kinder, was geht ihr den hier so alleine durch die Kälte?“

Die Stimme klingt so gar nicht nach einer bösen alten Hexe. Sie klingt zwar etwas zitternd aber warm und liebenswürdig. Mutig drehen sich die Kinder um und schauen in die freundlichen Augen einer wohl schon sehr alten Frau.

„Na, ihr fürchtet euch doch nicht vor mir alten Frau?“ spricht sie lächelnd weiter.

„Nein, aber wir wollen schnell nach Hause kommen“ antwortet Tom etwas an der Wahrheit vorbei redend. Lisa steht stumm neben ihrem Bruder und hat seine Hand ergriffen.

„Ihr braucht aber keine Angst haben vor mir“ sagt die alte Frau, die die Furcht vor allem in Lisas Augen sofort erkennt, „ich sehe zwar vielleicht wie eine alte Hexe aus dem Märchen aus, aber ich könnte wirklich keiner Menschenseele etwas antun!“

„Können wir bei ihnen vielleicht unsere Mutter anrufen, damit sie uns hier abholt? Der Bus ist nicht gekommen“ fragt Tom nun, der sofort bemerkt, dass es kindisch war, sich vor dieser alten Frau zu fürchten.

„Aber sicher. Kommt, wir gehen erst mal rein. Dort ist es warm“ antwortet die Frau.

Mit dem Schneeschieber in der Hand geht sie voraus und die Kinder hinterher. In den Fenstern des Hauses stehen kleine Lichtbögen und aus dem Schornstein steigt Rauch in den verschneiten Himmel. In der weihnachtlich geschmückten Diele schaltet die Frau eine Lampe an und zeigt Tom und Lisa die Garderobe, wo sie ihre Kleidung aufhängen können. Dann zieht sie die dicken Sachen aus, die sie vor der Kälte geschützt haben. Und auch die Kinder ziehen ihre Jacken und Schuhe aus. Die Frau zeigt Tom ihr Telefon. Der ist zunächst irritiert, denn der große schwarze Apparat hat einen viel zu schweren Hörer und statt Tasten ein Rad mit Löchern, unter denen die Zahlen 0 bis 9 zu sehen sind. Die Frau sieht das und erklärt ihm die Funktionsweise der alten Wählscheibe. Zum Glück erreicht Tom seine Mutter auch sofort. Sie hat sich schon Sorgen gemacht und fährt umgehend los. Aber das kann dauern, die Straßen sind ja glatt.

„Kommt Kinder, wir gehen in die gute Stube, dort ist es gemütlicher“ fordert die alte Dame Lisa und Tom auf und geht wieder voraus.

Sie betreten einen in ein gemütliches Licht getauchten Raum mit alten Möbeln und vielen Bildern an den Wänden. Auf Kommoden und Regalen flackern Kerzen, in den Fenstern stehen leuchtende Schwibbögen. An einer Seite des Raumes steht eine alte Schrankwand mit einem Regal in der Mitte, in welchem unzählige vor allem alte Buchrücken zu sehen sind. Und an der Wand gegenüber den Fenstern befindet sich neben der Tür ein Kamin, in dem ein Feuer lodert. Vor dem Kamin steht ein kleiner Tisch und um ihn herum gruppiert zwei Sessel und ein Sofa. Der Raum ist wie der Hausflur weihnachtlich geschmückt.

„Wärmt euch schon mal am Feuer, Kinder. Ich mache uns schnell noch heißen Tee. Und hier habt ihr eine Decke, mit der ihr eure Beine und Füße wärmen könnt“ sagt die Frau zu Tom und Lisa. Sie reicht den Kindern die Decke und verlässt die Stube wieder.

Die Kinder setzen sich auf das Sofa und blicken fasziniert in das Feuer. Langsam breitet sich wieder Wärme in ihren Körpern aus. Zunächst können Lisa und Tom ihre Augen nicht vom Feuer lösen. Doch dann schauen sie sich in dem Raum um. Alles, Möbel, Wände, Bilder ist so gar nicht modern, ganz anders als zu Hause. Aber überall scheinen kleine Geschichten verborgen zu sein. Deutlich spüren sie, wie das gelebte Leben der alten Frau aus den Dingen spricht. Zwei Bilder in Schwarzweiß, die auf dem Kaminsimms stehen, fesseln die Kinder besonders. Auf einem Bild ist eine junge schöne Frau mit zu einem Haarkranz geflochtenen blonden Haaren unter einem Brautschleier zu sehen. Sie steht im weißen Kleid an der Seite eines Soldaten mit Schirmmütze und Säbel. Beide schauen lächelnd in die Kamera. Und ein zweites Foto steht daneben, wo wohl der gleiche Soldat in sauberer Uniform mit geflochtenen Schulterklappen freundlich, aber auf eigentümliche Weise ernst im Portrait abgebildet ist. Dies Bild ist an einer oberen Ecke mit einem schwarzen Band geschmückt.

„So Kinder, jetzt wird euch richtig warm werden“ sagt die Frau, während sie den Raum mit einem Tablett betritt.

Sie stellt die Teekanne und Tassen auf den Tisch und gisst die dampfenden Flüssigkeit in die Tassen. Auch ein Teller mit Plätzchen steht auf dem Tablett. Noch immer etwas ausgekühlt trinken die Kinder vorsichtig den heißen und süßen Tee. Nachdem alle ihre Tasse wieder auf den Tisch gestellt haben, sagt die Frau zu den Kindern:

„Ich bin die Sophia, und wie heißt ihr zwei Kleinen denn nun eigentlich?“

„Tom“ antwortet Tom etwas mürrisch, da er ja nun wirklich nicht mehr klein ist.

„Lisa“ sagt Lisa und lächelt.

„Dürfen wir sie etwas fragen?“ fragt Tom die alte Dame, nachdem er sich wieder beruhigt hat. Sie hat schräg neben den Kindern in einem der alten Sessel Platz genommen.

„Ja Tom, das dürft ihr, aber ihr braucht mich nicht mit Sie ansprechen. Da ich euch Kinder mit Du anspreche, dürft ihr kleinen Menschen auch mich mit Du anreden“ erklärt Sophia mit freundlicher Stimme.

„Bist du das da auf dem Foto?“ fragt Tom und zeigt zum Kamin.

Sophia schaut kurz hin und sagt dann mit plötzlich leiserer Stimme:

„Ja, das war die schönste Zeit meines Lebens. Aber es war uns nur eine kurze Zeit vergönnt. Und diese schöne Zeit ist auch schon sehr lange her.“

Einen Moment lang wird es still im Raum. Nur das Feuer knistert. Dann steht Sophia auf und legt Holz nach. Tom fasst erneut allen Mut zusammen und fragt:

„Ist der Soldat dein Mann, habt ihr da geheiratet?“

„Ja, das ist mein geliebter Ludwig, der fesche Leutnant“ antwortet Sophia mit einem Lächeln aber zitternder Stimme, „das Foto zeigt einen der glücklichsten Momente in unserem Leben.“

„Und warum hat das andere Foto diese schwarze Ecke?“ fragt Lisa.

„Das macht man, wenn ein Mensch gestorben ist“ antwortet Sophia mit noch leiserer Stimme.

„Warum ist dein Ludwig denn gestorben?“ fragt Lisa in ihrer noch kindlichen Unschuld weiter.

Sophia atmet tief ein, schaut die Kinder mit ernster Miene an und antwortet dann:

„Weil wir Menschen leider sehr dumm sind und unfähig, wirklich menschlich zu sein. Ihr seid ja noch sehr jung. Aber ich denke, ein Mensch kann es nicht früh genug erfahren, worauf es ankommen in diesem Leben!“ Mit bebender Stimme fragt sie: „Wollt ihr unsere, Ludwigs und meine, Geschichte hören?“

Der Klang in Sophias Stimme hat die Kinder betroffen gemacht, aber ihre Andeutungen haben auch ihre Neugier geweckt. Die Kinder schauen Sophia mit großen Augen an und antworten leise:

„Ja Sophia, bitte erzähle uns eure Geschichte.“

„Gut, merkt euch bitte alles, was ich euch erzähle. Es wird leider viel Trauriges dabei sein. Aber ich werde euch auch sehr Schönes berichten“ sagt Sophia zu Tom und Lisa und lehnt sich in ihren alten Sessel zurück.

A

„Es war im Frühling 1936. Ich ging noch zur Schule, war auf dem Weg zum Abitur. Eines Abends stand dann plötzlich dieser fesche junge Offizier vor mir. Ich kam mit ein paar Freundinnen aus dem Kino. Wir scherzten und lachten und ich rempelte ihn ausversehen an. Schick sah er aus in seiner schmucken Uniform mit seinen silbernen Leutnantsklappen auf den Schultern und seiner Schirmmütze auf seinem kantigen Kopf. Er war kein auffallend schöner Mann, aber er sah stattlich aus in der Uniform und sein Blick strahlte viel Wärme aus. >Verzeihung, mein Fräulein!< sagte er höflich und salutierte vor mir.

Ich erstarrte und war wie gefangen von ihm. Es war ein schönes, völlig aufheiterndes Gefühl, was mich plötzlich ergriff – vielleicht so, als ob nach einem vernebelten Morgen plötzlich die Sonne scheint. Obwohl ich mit meinen neunzehn Jahren noch fast ein Kind war, wusste ich sofort: Das ist er! Ich kann euch nicht sagen warum, aber ich wusste es – so erscheint es mir zumindest rückblickend bis heute. In diesem Moment vermochte ich dies heitere, erhebende Gefühl noch nicht zu deuten. Es war nur einfach schön! Der Offizier stellte sich als Leutnant Ludwig Minne vor, Panzergrenadierbataillon sowieso. Ich sagte nur, dass ich Sophia heiße. Dann bekam ich es mit der Angst zu tun. Schnell drehte ich mich weg. Meine Freundinnen griffen meine Hand und übertrieben lachend stürmten wir davon zur Straßenbahnhaltestelle.“

Sophia macht eine Pause und trinkt einen Schluck Tee. Weihnachtlicher Glanz umgibt sie. Die Kinder schauen sie gebannt an.

„Und dann, wie ging es weiter?“ fragt Lisa ungeduldig.

„Nur ruhig Blut junge Dame“ erwidert Sophia und rückt sich im Sessel zurecht.

„Es vergehen einige Tage. Der junge, fesche Leutnant, wie wir Mädchen ihn genannt haben, geht mir aber nicht aus dem Sinn. In der Schule kann ich mich nicht konzentrieren und nachts kann ich nicht schlafen. Ich bin verliebt. Das wird mir immer deutlicher bewusst. Ihr müsst wissen, Kinder, damals war alles noch nicht so offenherzig zwischen Mann und Frau, wie das heute meist der Fall ist. Und wir waren auch nicht so aufgeklärt und fast schon frühreif, wie das heute häufig der Fall ist. Was heute möglicherweise schon zu früh und zu viel passiert, das war damals viel später dran und vieles auch nicht statthaft oder gar erlaubt.“

Sophia macht wieder eine Pause.

„Aber ich will die Geschichte nicht zu sehr in die Länge ziehen. Eure Mutter kann ja jeden Moment hier sein. Kurz, irgendwann fasste ich allen Mut zusammen und ging zu seiner Kaserne. Irgendwann kam er auch tatsächlich heraus, aber er ging mit einem Kameraden plaudernd an mir vorbei – ohne mich wahrzunehmen, wie ich glaubte. Was ich alles anstellen musste, um ihn immer wieder zu sehen und wie umständlich unser Kennenlernen verlief, will ich um der Kürze willen weglassen. Irgendwann blieb er stehen und sprach mich auf das Kino an. Er begann damit, mir den Hof zu machen und mein Herz schien zu fliegen. Ludwig führte mich zum Kaffee aus und ins Theater. Ich konnte es kaum erwarten, dass er sich wieder meldet und wir wieder etwas gemeinsam unternahmen. Auf dem Weihnachtsmarkt im Advent 1936 gestand er mir schließlich seine Liebe und ich ihm die meine.“

„Habt ihr euch dann geküsst?“ fragt Lisa aufgeregt.

„Nein, oder ja, aber nur ganz kurz und verlegen. Wie gesagt, damals war alles anders als heute!“ beantwortet Sophia Lisas Frage.

„Und der Ludwig lief die ganze Zeit in dieser schicken Uniform herum?“ fragt Tom fasziniert.

„Ja, das war damals eine Zeit der Uniformen, Kinder. Das alte Preußen lebte in diesen Uniformen noch immer und alle hatten Respekt vor einem Offizier. Entsprechend stolz war ich junges Ding damals, wenn ich mit meinem Ludwig durch die Straßen flanierte. Wir Mädchen träumten alle von einem stolzen Ritter oder eben von einem Offizier mit Säbel und Portepee. Wir hatten ja keine Ahnung, welche grausame Zukunft sich hinter diesen schmucken Uniformen versteckte“ erklärt Sophia.

„Aber ich will später auch Soldat werden, wie mein Onkel Sebastian. Der ist Kompaniechef bei den Fallschirmjägern“ kommentiert Tom Sophias Worte mit etwas Unverständnis.

„Ach Junge, ich weiß, alle Jungs träumen davon, ein Held zu werden. Aber Helden sterben mitunter sehr früh, zu früh. Oder sie bemerken viel zu spät, dass es nicht sehr heldenhaft ist, Menschen zu töten“ sagt Sophia mit matter Stimme.

„Aber …“ will Tom protestieren.

Doch Sophia führt den Finger an den Mund und gibt ihm zu verstehen, einstweilen zu schweigen:

„Warte erst mal unsere Geschichte ab, Tom.“

„Okay“ sagt Tom wieder leiser und lehnt sich zurück.

„Es war, wie gesagt, die schönste Zeit meines Lebens. Im Frühling 1937 feierten wir Hochzeit. Mein fescher Leutnant war mittlerweile zum Oberleutnant befördert worden. Da ist das Foto links entstanden. Unsere Flitterwochen verbrachten wir in den bayerischen Alpen. Wir waren so verliebt! Ludwig war sehr besorgt um mich, und ich auch um ihn. Und wann immer wir kurz getrennt waren und uns dann wieder sahen, konnten wir in den Augen des anderen die grenzenlose Freude sehen, die er empfand, einfach nur weil es einen gab. Wir brauchten wenig Worte, um uns sicher zu sein, dass wir einander liebten.“

„Schön!“ entfährt es Lisa.

„Ja, das war schön. Aber es dauerte nicht lange, dann sahen auch wir die dunklen Wolken am Horizont. Ein Jahr später wurde Österreich ins Reich geholt, dann brannten im November die Synagogen. Auch wenn Ludwig Soldat war und ich zuvor im BDM, dass man Menschen so etwas nicht antut, war uns beiden bewusst. Doch, wie so viele Menschen damals, glaubten wir, die Zeiten würden auch wieder besser werden.“

„BDM?“ fragt Tom.

Sophia steht auf und schürt im Feuer. Lisa schenkt frischen Tee in alle Tassen.

„Der BDM war der Bund deutscher Mädel“ antwortet Sophia dann, während sie am Kamin hantiert, „das war eine Jugendorganisation der Nationalsozialisten, der weibliche Zweig der Hitlerjugend. Ihr werdet hoffentlich in der Schule noch mehr darüber erfahren, heute würde es meine Geschichte zu sehr in die Länge ziehen.

Doch wieder ein Jahr später bekam der Wahnsinn ein neues Gesicht. Zunächst mit stolzgeschwellter Brust rollte mein Ludwig mit seinen Panzern über die Grenze nach Polen. Der Beruf des Soldaten war es, und ist es übrigens noch heute, Krieg zu führen. Und so waren vor allem die Offiziere froh, sich endlich auf dem Schlachtfeld beweisen zu können. In meinem naiven Denken durchschaute ich die Situation noch nicht, aber ich hatte kein gutes Gefühl dabei. Für unsere Liebe war das eine harte Prüfung. Wir sahen uns von nun an immer nur wenige Tage, allenfalls Wochen im Jahr. Immer, wenn Ludwig Heimaturlaub hatte. Zunächst gaben wir uns dann immer einfach unserer jungen Liebe hin, Ludwig schenkte mir drei Kinder. Aber mit jedem Heimatbesuch wurde er nachdenklicher und trauriger. Schließlich verbrachten wir unsere wenigen Abende nicht mehr eng umschlungen im Ehebett, sondern in langen Gesprächen. Es ist unvorstellbar, was er mir von der Front berichtet. Das Sterben, das Töten, das Leiden von unzähligen Menschen, grausame Wunden ließen meinen Ludwig nicht mehr richtig schlafen. Dazu kamen noch Verbrechen, die er auch zu sehen bekam. Frauen und auch Kinder wurden erschossen und es hieß, in Polen gäbe es ein Lager, in dem Juden vergast werden. Bei unserem letzten Treffen war mein Ludwig nur noch ein Schatten seiner selbst. Inzwischen war er Oberstleutnant und Bataillonskommandeur in der 6. Armee. Aus der Zeit stammt das andere Foto dort.“

Sophia zeigt auf das Bild mit dem Trauerflor. Die Kinder folgen ihrer Hand schweigend.

„Auf dem Bild sieht man seine Traurigkeit nicht. Da hat er sich zusammengerissen und seine liebenswürdige Seele zum Ausdruck gebracht. Vielleicht wusste er, dass das das letzte Bild sein würde, was ich von ihm haben würde.“

Sophia kommt ins stocken. Tränen kullern über ihre Wangen. Lisa legt aus einem Reflex ihre Hand auf Sophias Knie. Sophia greift nach der Hand und erzählt weiter:

„Ihr habt vielleicht schon von Stalingrad gehört. Mein Ludwig und seine Grenadiere wurden dort im Winter 1942/43 eingekesselt. Als ich von der mörderischen Schlacht hörte, wusste ich, ich würde meinen Ludwig nicht wieder sehen. Im Januar 1943 kam ein junger Leutnant vom Ersatzheer, so fesch und stolz wie einst mein Ludwig, zu mir und sagte, mein Ludwig sei heldenhaft für Reich und Führer gefallen. Da die Kinder hinter mir standen, musste ich mich zusammenreißen. Denn alle fingen sogleich an zu weinen. Dem jungen Offizier sagte ich nur: >Ach Herr Leutnant, wenn sie wüssten< und ließ ihn dann stumm im Flur stehen.

Später am Abend, als die Kinder alle im Bett lagen, und ich sie halbwegs beruhigen konnte, sank ich in unser Ehebett. Hier, wo wir in manch langer Nacht mit so viel Freude unsere Liebe gefeiert hatten, von der wir glaubten, sie würde ewig dauern. Hier, wo wir zuletzt in dunkler Ahnung lange vertraute Gespräche führten und hier, wo mein Ludwig mir gestand, dass Soldat ein böser Beruf ist, hier brach ich in Tränen aus. Und bis zum frühen Morgen konnte ich nicht mehr aufhören zu weinen. Erst, als mein Körper auszutrocknen drohte, hörte ich auf mit dem Weinen. Mit dunklen Augen frühstückte ich mit den Kindern und beschloss, meine Kinder werden niemals in irgendeinen Krieg ziehen! Es folgten viele dunkle Wochen und Monate, wo mich der Kummer um Ludwig in einer tiefen Traurigkeit erstarren ließ und immer wieder unverhofft meine Tränen flossen. Nur die Kinder gaben mir noch Kraft, mein Leben nicht aufzugeben. Doch dieser Schmerz sollte sich noch steigern lassen.“

Sophia verstummt und trinkt wieder einen Schluck Tee. Der Raum ist erfüllt von Stille, nur das Feuer im Kamin knistert und die Kerzen ringsum flackern. Schweigsam schauen Lisa und Tom Sophia an und warten, dass die Geschichte weiter geht.

„Als wollte die Welt mich verhöhnen, starb mein ältester Sohn, den wir auch Ludwig genannt hatten, in den Bombennächten des Frühjahrs 1945. Wenig später sollte dieser schreckliche Krieg zu Ende sein. Doch mein Schmerz lebte fort. Hermann, unser mittlerer Sohn, hasste die Britten, weil sie seinen großen Bruder getötet hatten und Anna-Sophia, unser Mädchen, fragte nur, wann kommt Ludwig wieder. Sie konnte nicht wissen, dass mich dies doppelt stach. Denn sie hatte ihren Vater nicht mehr kennenlernen dürfen. Mir aber fehlten nun zwei Ludwigs. Es dauerte lange, bis ich wieder etwas Freude in mein Herz lassen konnte. Noch länger brauchte ich, bis Hermann endlich begriffen hatte, dass die Bomben der Britten zwar ebenfalls nichts Gutes waren, dass wir Deutschen diesen grausamen Krieg aber allein zu verantworten hatten und dass sowieso nicht jeder Engländer oder Amerikaner oder Russe böse war, nur weil wir Krieg gegen diese Länder geführt hatten. War ich anfangs noch genauso dumm fanatisch wie viele meiner Generation, so empfing ich am Ende trotz der Bomben die alliierten Truppen als Befreier.“

Wieder verstummt Sophia. Es ist doch sehr anstrengend für die alte Frau, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Doch vielleicht war dies die letzte Gelegenheit, ihre Erfahrung weiter zu reichen.

„Hast du später wieder geheiratet, Sophia?“ fragt Lisa vorsichtig.

„Nein“ antwortet Sophia ohne zögern, „es gab so manchen Verehrer, ich war schließlich noch jung und auch nicht unansehnlich. Aber ich war für Ludwig geboren worden und wenn die Kinder nicht gewesen wären, ich weiß nicht, ob ich den Krieg überlebt hätte“.

„Aber dann hast du ja noch über sechzig Jahre alleine gelebt“ stellt Tom fest.

„Alleine?“ fragt Sophia, „nein alleine war ich nie. Ich hatte ja die Kinder und später auch Enkel – und ich hatte zum Glück auch einige gute Freunde. Und Ludwig war ja nie wirklich verschwunden, er ist bis heute bei mir. Ich trage ihn in meinem Herzen. Erst wenn ich gehe, wird er mit mir gehen. Manchmal denke ich, ich bin so alt geworden, weil Ludwig so früh gestorben ist. Ich musste einfach zwei Leben leben.“

Sophia verstummt und Lisa weint leise. Tom rutscht unruhig auf dem Sofa hin und her.

„Das ist wohl doch noch zu schwer zu verstehen für dich, was Lisa?“ fragt Sophia mit ruhiger Stimme.

„Deine“ Lisa korrigiert sich, „eure Geschichte ist sehr traurig aber auch sehr schön, denn du hast deinen Ludwig wohl wirklich sehr geliebt“ antwortet Lisa schluchzend.

„Ja, das habe ich“ bestätigt Sophia Lisas Feststellung, „und wenn dies der einzig denkbare Weg war, auf dem sich unsere Liebe verwirklichen konnte, dann will ich auch keinen anderen gegangen sein – so schmerzhaft dieser Weg auch war“ spricht Sophia weiter.

„Aber warum warst du dir gleich so sicher, dass Ludwig der richtige ist?“ fragt Lisa nun wieder etwas gefasster.

„Das kann ich dir nicht sagen, Lisa. Wahrscheinlich war ich anfangs gar nicht sicher. Ich habe einfach nicht weiter darüber nachgedacht. Ich wusste nur sehr schnell, dass ich ihn liebe. Später, in seinen tiefgründigen Briefen von der Front, hat mir Ludwig immer auch ein paar Verse gedichtet. Am Ende hatte ich eine Sammlung von Aufsätzen über den Sinn des Lebens, die Liebe und unsere Liebe – und ein langes Gedicht über die Liebe. An einer Stelle schrieb er da: >Liebe wird von uns nicht gelenkt, Liebe wird uns geschenkt<. Es gibt also keine Erklärung für die Liebe, Kind.“

Lisa schaut Sophia an und versucht die Worte dieser Frau zu begreifen. Nachdenklich wendet sie ihren Blick dabei dann dem Feuer zu.

„Aber Kind, so sicher du dir deiner Liebe eines Tages auch bist, bewehren muss sie sich im Leben. Und das hält mitunter sehr harte Prüfungen bereit“ spricht Sophia weiter.

Lisa schaut Sophia wieder an und sagt leise „Ja“.

Nun kann Tom sich nicht mehr zurückhalten.

„Aber deine Geschichte stammt aus einer anderen Zeit. Heute sind unsere Soldaten die Guten. Mein Onkel schützt unsere Freiheit in Afghanistan“ bringt er seinen Unmut zum Ausdruck.

Sophia, die von der Reise in ihre Vergangenheit mittlerweile sehr aufgewühlt und auch erschöpft ist, erwidert etwas verärgert:

„So, tut er das?“ Dann wird ihr wieder bewusst, dass sie es noch mit einem Kind zu tun hat und sagt in wieder ruhigerem Ton: „Tom, du bist noch sehr jung. Ich kann verstehen, wenn du meine Geschichte noch nicht ganz begreifen kannst. Und ich weiß auch, dass ihr Jungen immer gerne Soldaten sein wollt. Und sicher ist dein Onkel auch ein ganz lieber Kerl. Mein Ludwig war für mich ja auch der liebste Kerl auf dieser Welt. Und trotzdem ist er in den Krieg gezogen und hat Menschen getötet und zum Töten befohlen.“

„Aber mein Onkel macht sowas nicht, der hilft den Menschen dort“ widerspricht Tom.

„Was ist dein Onkel? Fallschirmjäger? Fallschirmjäger gehören zu den Kampftruppen. Sie lernen nichts anderes, als Menschen zu töten! Aber auch jeder andere Soldat hat als eigentliche Aufgabe das Töten. Auch der Panzerschlosser oder der einen Brunnen bohrende Pionier. Der Beruf des Soldaten ist das Töten und Sterben. Es tut mir leid, Tom. Aber das muss dir bewusst sein, denn sonst wirst du irgendwann so unglücklich, wie es am Ende mein Ludwig war.“

Tom wird wütend und springt auf und ruft:

„Du bist eine böse alte Hexe! Mein Onkel ist kein schlechter Mensch!“

Da springt auch Lisa auf, fast ihren Bruder an der Hand und sagt zu ihm:

„Aber du, wenn du dich nicht augenblicklich entschuldigst. Sophia hat uns ohne Fragen aufgenommen und geholfen. Sie hat viel gelitten in ihrem Leben und du schreist sie an!“

Tom schaut entgeistert seiner Schwester in die Augen, die plötzlich so besonnen und weise redet. Diese Unterbrechung nutzt Sophia, um die Wogen wieder zu glätten:

„Ich habe doch gar nicht gesagt, dass dein Onkel ein schlechter Mensch ist. Ich habe nur gesagt, was der Beruf des Soldaten ist. Viele unserer Soldaten heute sind sicher ganz liebe und friedliche Menschen. Und vielleicht kommen wir auch noch nicht ganz ohne Soldaten aus. Aber das ändert nichts daran, dass unsere Soldaten nichts in Afghanistan zu suchen haben. Und dass die Hauptaufgabe des Soldaten das Töten von Menschen ist – und das Sterben. Kinder, vielleicht erzähle ich euch zu schwere Kost, aber ihr müsst dieses Wissen erlangen und weiter tragen. Die Menschen meiner Generation werden bald alle nicht mehr am Leben sein.“

Sophias Stimme wird nun sehr ernst.

„Es gibt zwei Wege, den menschlichen und den Weg der Macht. Heute scheinen wir wieder den Weg der Macht gehen zu wollen. Deutsche Soldaten sollen in der Welt dafür sorgen, dass unsere Wirtschaft freien Handel betreiben kann. Das ist Imperialismus, Kinder, die Großmachtbestrebung des 19ten Jahrhunderts. Und nun gibt es auch wieder Orden für besonders gute Krieger. Mein Ludwig hatte auch so ein Eisernes Kreuz. Zum Schluss wollte er es am liebsten nicht mehr tragen.“

Sophia stockt der Atem, redet dann aber weiter.

„Irgendwie erinnert mich so vieles heute, wenn bisher auch nur sehr versteckt, an diese schreckliche Zeit. Mit einer Demokratie, die sich den Menschrechten verpflichtet hat, Kinder, hat das fast nichts mehr gemein.“

Als Sophia eine Pause macht, meldet sich Lisa abermals zu Wort. Um die Situation wieder etwas zu beruhigen fragt sie:

„Und wie ging dein Leben nach dem Krieg weiter?“

Sophia, die kurz aufgestanden ist, legt zunächst ein Stück Holz ins Feuer und spricht dann wieder ruhiger weiter:

„Nun, nachdem ich mich mit meiner Situation abgefunden hatte, beschloss ich, mein Leben dem Frieden zu widmen und so vielleicht dem Sterben meiner beiden Ludwigs postum noch einen Sinn zu geben. Zunächst engagierte ich mich in einem Verein für deutsch-französische Freundschaft. Anna-Sophia lerne hier ihren späteren Mann kennen. Beide leben, auch schon in die Jahre gekommen, glücklich in Toulouse. Das steht für einen echten Erfolg und gibt Hoffnung, denn 1914 sahen sich Deutsche und Franzosen noch als verhasste Erbfeinde. In den 1950er Jahren setzte ich mich gegen die Wiederbewaffnung ein, vergeblich, wie ihr wisst. Und in den 60er Jahren gründete ich einen Verein für die deutsch-russische Freundschaft mit. Im kalten Krieg war das aber fast unmöglich.“

Sophia schaut den Kindern, die ihr wieder gebannt lauschen, in die Augen und sagt:

„Kinder, ihr dürft nicht vergessen. Auch die Russen oder die Chinesen oder die Afghanen lieben ihre Kinder wie wir. Sting hat in den 1980er Jahren, als es noch den Kalten Krieg gab, gesungen >The Russiians love their children too<, die Russen lieben auch ihre Kinder. Das bringt es schon fast auf den Punkt. Wir müssen auf die Menschen zu gehen und mit ihnen reden und ihnen nicht nur von der Menschlichkeit erzählen, sondern sie ihnen auch zeigen. Solange der wirtschaftliche Erfolg großer Konzerne aber mehr wiegt als ein Menschenleben, wird es Piraten in Somalia geben und wütende Kinder in Palästina. Das ändert auch keine Bundeswehr. Und in Guantanamo haben wir Menschen im Westen schwer versagt. Das hat uns unglaubwürdig gemacht.“

Wieder macht die alte Frau eine Pause und trinkt einen Schluck Tee. Mit etwas zitternder Stimme redet sie dann weiter.

„Sicher gibt es auch wirklich böse Menschen in der Welt, und gegen die müssen wir uns auch schützen. Aber die meisten Menschen wollen in Ruhe und Frieden leben, egal welcher Weltanschauung sie anhängen. In den aktuellen Konflikten wird Religion oft nur als Deckmantel für ganz anderes benutzt. Denn, ob jemand an Gott, Allah oder Buddha glaubt, hängt doch sehr stark von seiner Geburt ab. Jeder Mensch aber liebt andere Menschen und liebt sein Leben, und jeder Mensch hat Sorgen und Nöte. Meist bekommen wir nur Probleme miteinander, weil wir nicht miteinander reden. Das wichtigste ist, auf andere Menschen zuzugehen und mit ihnen zu reden. Und das klappt in der Regel ohne Waffen besser als mit. Weihnachten nennen wir das Fest der Liebe. Und daran sollten wir uns erinnern, Kinder. Ich rede nicht so, weil ich euch verschrecken will, sondern weil ich Kinder wie euch liebe und sie vor solchen Torheiten bewahren will, wie wir sie in unserer Jugend begangen haben. Ein anderer Vers von meinem Ludwig hilft hier in gewisser Weise auch weiter. Zwar hat er ihn eigentlich deutlich persönlicher gemeint, aber er kann auch in Bezug auf die Völkerfreundschaft verstanden werden: >Liebe ist Freundschaft, Liebe uns Freunde schafft.<“

Sophia hat gerade diese schönen Worte gesprochen, da ertönt die alte Türklingel. Die Kinder schrecken auf und merken, plötzlich, wie weit sie in eine andere, etwas magisch wirkende Welt abgetaucht waren. Vielleicht kommt diese Frau doch aus einem Märchen, denkt Lisa, nur dass sie keine Hexe ist, sondern vielleicht eine gut Fee. Außerdem, wer hat denn gesagt, dass Hexen wirklich böse sein müssen …?

Sophia begrüßt die Mutter von Tom und Lisa an der Haustür. Die bedankt sich bei ihr. Mit glänzenden Augen verabschiedet sich dann Lisa von Sophia. Und auch Tom haben die letzten Worte nachdenklich und milde gestimmt. Mit einem Lächeln drückt er Sophia die Hand zum Abschied und sagt:

„Danke Sophia, diesen Abend werde ich wohl nicht so bald vergessen. Entschuldige bitte, dass ich so wütend geworden bin.“

Sophia schaut ihn an und streicht ihm über den Kopf. „Das habe ich durchaus verstanden“ sagt sie mit Freudentränen in den Augen. Lisa, die die alte Frau schnell sehr ins Herz geschlossen hat, umarmt diese spontan und küsst sie zum Abschied auf die Wange.

„Und noch was Kinder!“ sagt Sophia, als alle schon über die Türschwelle gehen, „im Zweifel folgt immer eurem Herzen und bleibt wahrhaftig, bleibt euch selbst treu!“

A

Vor dem Haus begrüßt die kalte Winterluft die Kinder. Es hat aufgehört zu schneien. Stattdessen leuchten viele helle Sterne am Himmel und verleihen so der hereingebrochenen Nacht noch mehr Glanz, als sie schon durch Schnee und Weihnachtsschmuck bekommen hat. Alle schauen zum Himmel und Lisa meint, eine Sternschnuppe gesehen zu haben. Vielleicht war das ein Zeichen von Ludwig, denkt sie und lächelt. Schließlich ist Weihnachten ja das Fest der Liebe!

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Juni 10

I. „Tapfer“ sterben für …

„Tapfer“ sterben für …

… ja für was denn?

Sollten deutsche Soldaten wirklich in der ganzen Welt kämpfen?

Gedanken zum Zeitgeist I – im Ostfalen-Spiegel

Von Rainer Elsner

43 Soldaten der Bundeswehr sind bisher allein in Afghanistan gestorben.[1] Wie viele Menschen in diesem Auslandseinsatz von deutschen Soldaten getötet wurden, ist vermutlich unbekannt. Unvermeidlich unserer Kenntnis entzieht sich das Leid, welches durch diesen Einsatz in die Welt getragen wurde – bei allen beteiligten Menschen. Sicher ist, dass unzählige Menschen um den Verlust eines geliebten Menschen trauern. Jedes Mal Schmerzen, die nicht mehr verschwinden wollen – das Kind ohne Vater, der Bräutigam ohne Braut.

Sicher ist ebenso, dass unzählige Soldaten traumatisiert nach Hause kommen. Auch hier, Schmerzen, die nicht mehr verschwinden wollen – die Schuld am Tot anderer Menschen, oder dem eigenen Tod gerade noch einmal entronnen. Das ist der Preis für die deutsche Außenpolitik seit der Wiedervereinigung!

Wir tragen die Verantwortung

Doch, muss das zwingend so sein? Und, wofür kämpfen unsere Soldaten denn überhaupt? Und wissen diese Soldaten eigentlich von Anfang an, welchen Beruf sie letztendlich ausüben? – Und sind wir Bürgerinnen und Bürger uns überhaupt bewusst, dass wir für all das angerichtete Leid die Verantwortung tragen? In einer Demokratie ist der Souverän das Volk![2] Die Soldatinnen und Soldaten (junge Menschen, die meist noch keine Vorstellung von Tod und Sterben haben; und die nicht wissen, wie es sich anfühlt, einen Menschen zu töten) haben sich in ihrem Eid unserer Freiheit und unserer Verfassung verpflichtet, letztlich also uns als Volk.[3] Wir tragen also die Verantwortung dafür, was diesen Menschen widerfährt und was diese Menschen in der Welt anrichten. Also sollten wir für uns all diese Fragen beantworten.

Anderen Nationen ein Vorbild sein

Muss Deutschland seine Soldaten in die Welt schicken? Ich denke, nein. Für Frieden und Freiheit kann in der Regel mit nichtmilitärischen Mitteln effektiver und glaubwürdiger gehandelt werden. Im 21ten Jahrhundert kann und darf der Einsatz von Militär nur noch das wirklich letzte Mittel, die Ultima Ratio sein! Und vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte gibt es gerade für Deutschland eigentlich auch eine für jeden vernünftigen Menschen nachvollziehbare (Selbst-)Verpflichtung, einen friedlichen Weg zu gehen. Das würde zeigen, dass Deutschland aus der Geschichte gelernt hat und anderen Nationen ein Vorbild sein kann.

Außenpolitik des 19ten Jahrhunderts

Wofür kämpfen unsere Soldatinnen und Soldaten überhaupt? Der Eid spricht von „Recht und Freiheit“. Aber wird unsere Freiheit tatsächlich am Hindukusch bedroht und somit auch verteidigt? Herr Köhler hat es ungeschickterweise ausgesprochen (und wohl, damit darüber nicht weiter diskutiert wird, ist er schnell zurückgetreten). Tatsächlich werden die meisten bewaffneten Konflikte aus wirtschafts- und machtpolitischen Gründen ausgetragen. Und mindestens solange in Deutschland mit der Produktion und dem Export von Kriegswaffen Milliardenumsätze[4] gemacht werden, ist jedes militärische Argument scheinheilig. Bestenfalls müssen die Soldaten den Käufern der Waffen diese wieder aus der Hand schlagen. Doch, wie wir aus den Worten des ehemaligen Bundespräsidenten entnehmen können, geht es tatsächlich wohl ohnehin eher um eine Rückkehr zur Außenpolitik des 19ten Jahrhunderts – im Einvernehmen mit einer global ziemlich sorglos agierenden Wirtschaft.

Politik wird mit dem Leid anderer Menschen bezahlt

Der Zynismus einer solchen Politik schreit einen förmlich an. Denn diese Politik wird wissentlich mit dem Leid anderer Menschen bezahlt. Mindestens einige hundert Menschen sind seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges mittlerweile wieder durch den Einsatz deutscher Soldaten getötet worden, viele andere verstümmelt oder traumatisiert. Menschen aus fernen Ländern, die häufig nicht einmal wissen, wo Deutschland liegt. Und Soldaten, die im Vertrauen auf das Verantwortungsbewusstsein der politischen Führung ihre eigene Entscheidungsfreiheit an diese Führung abgegeben haben. Zumindest zu Beginn ihrer Dienstzeit sind diese Soldaten zudem junge Menschen, die sich von Geld und Abenteuer locken lassen und keine Vorstellung davon haben, was sie in einer tatsächlichen Gefechtssituation erwartet. Der „normale“ Arbeitstag eines Soldaten kann mit dem Tod enden – oder mit dem Trauma, Menschen getötet zu haben. Ich bin mir sicher, diese Tatsache ist vielen Soldaten bei ihrer Entscheidung für diesen Beruf in ihrer ganzen Tragweite nicht bewusst. Denn ihr Gewissen befragen müssen die Menschen, die den Dienst an der Waffe ablehnen, nicht die, die die Waffe in die Hand nehmen!

Persönliche politische Entscheidungen

Möglicherweise gibt es auch nachvollziehbare Argumente für die Kampfeinsätze der Bundeswehr. Aber am Ende der persönlichen Auseinandersetzung mit den genannten Fragen komme ich immer zu der Frage nach meiner eigenen Menschlichkeit. Im Bewusstsein der genannten Tatsachen sollte sich jede Bürgerinnen und jeder Bürger in Deutschland fragen, ob sie und er die Kampfeinsätze deutscher Soldaten im Ausland verantworten kann. – Kann ich es verantworten, Menschen diesem Leid auszusetzen? Oder gibt es nicht auch andere, weniger leidvolle Wege? Und die gefundenen Antworten auf diese wirklich existenziellen Fragen sollten die Basis bilden für die persönlichen politischen Entscheidungen – bei Wahlen, in Parteien, in Diskussionen.

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Quellen

[1] http://www.spiegel.de/flash/flash-23114.html, 5. Mai 2010.

[2] Art. 20 GG Abs. 2 Satz 1: Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.

[3] „Ich schwöre der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.“ §9 Soldatengesetz, Eidesformel für Berufssoldaten und Soldaten auf Zeit der Bundeswehr.

[4] Z. B. http://www.abendblatt.de/wirtschaft/article1421593/U-Boot-Verkauf-treibt-deutsche-Ruestungsexporte-an.html, 16. März 2010.

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Gedanken zum Zeitgeist

In den Gedanken zum Zeitgeist erscheinen in loser Folge kritische Kommentare zur aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Deutschland und der Welt. Die einzelnen Gedanken zum Zeitgeist fokusieren in der Regel ein Thema und setzen auch unterschiedliche Schwerpunkte.  Grundsätzliche Standpunkte wie auch der philosophische Unterbau werden dabei nicht jedes Mal neu dargelegt. Für ein besseres Verständnis der Basis der geäußerten Kritik ist es also sinnvoll, nach und nach alle Gedanken zum Zeitgeist zu lesen und auch die Seite Ostfalen-Spiegel.

I. Tapfer sterben für …

II. Der Finger in der Wunde

III. Die Demokratie lebt vom Diskurs

IV. Mehr Schein als Sein

V. Begründung einer Hoffnung

VI. Wer das Geld hat –

VII:.…

Katgeorie:Hauptartikel, Kommentare, Militär, Politik und Gesellschaft | Kommentare deaktiviert für I. „Tapfer“ sterben für …
März 27

Jägerlatein

Jägerlatein – Geschichten von einem Raufbold

Kommentar zum Artikel „Der versteckte Hirsch“ in der Wild und Hund Nr. 3/2010.

Von Rainer Elsner

Um es gleich vorne weg zu klären. Dieser Beitrag richtet sich nicht gegen die Jäger und will auch nicht alle Jäger in die braune Ecke stellen! Allerdings habe ich mit etwas Verwunderung bei einem befreundeten Jäger diesen Artikel und die Reaktionen darauf in der genannten Zeitschrift gelesen. Darauf hin stellte sich mir die Frage: Was fasziniert deutsche Jäger an einer Hirschskulptur aus dem Dritten Reich? In der Jagdzeitschrift Wild und Hund wurde im Heft 3/2010 auf den Seiten 100 und 101 eine Artikel veröffentlicht, in welchem über die Geschichte einer lebensgroßen Hirschskulptur berichtet wird. Die Skulptur wurde im Auftrag von Hermann Göring gefertigt und stellt einen Hirsch dar, den der damalige Ministerpräsident von Preußen, Oberbefehlshaber der Luftwaffe und Reichsjägermeister Göring erlegt hatte. Das Tier erhielt den Spitznamen „Raufbold“. Bei der Reichjagdausstellung 1937 in Berlin bekam die Skulptur einen exponierten Platz vor dem Eingang der Ausstellung. Der gesamte Beitrag in der Wild und Hund befasst sich mit der Geschichte dieser Skulptur. In einem unbefangenen Tonfall wird beschrieben, dass der Hirsch sogar die DDR überlebt hat und nun versteckt in einem Park im Osten Berlins auf seine Besucher wartet. Gestallterisch wird der Artikel von einem Foto des monumentalen Eingangsportals der Jagdausstellung von 1937 dominiert. Ein weiteres Bild zeigt einen freundlichen Göring mit dem erlegten Hirsch. Mit keiner Silbe wird in dem Artikel darauf eingegangen, welche menschenverachtenden Verbrechen Hermann Göring mit zu verantworten hatte. Dies gab den Anlass, folgenden Leserbrief zu verfassen:

Leserbrief zum Artikel „Der versteckte Hirsch“

Es ist ja vielleicht tatsächlich interessant, zu wissen, wo der besagte Hirsch verblieben ist. Allerdings fragt sich, warum? Jagdtrophäen sind in fast jedem Jagdhaushalt zu finden. Wege zu Hirschskulpturen finden sich zum Beispiel mit der Google-Bildersuche. Und bei einer Beschäftigung mit dem Dritten Reich helfen das Lesen von Geschichtsbüchern, das Betrachten von Dokumentarfilmen und der Besuch von Museen und Gedenkstätten.

Was bleibt also übrig? Vielleicht ein Gedenken an den Reichsjägermeister? Diese Vermutung drängt sich auf. Denn was sonst macht diesen einen Hirsch so interessant und besuchenswert? Verstärkt wird diese Vermutung dann auch von der Tatsache, dass im besagten Artikel ja einfach nur vom Reichsjägermeister geschrieben wird.

Aber wer war denn nun dieser „liebe“ Reichsjägermeister Hermann Göring? Ist die Geschichte dieses wohl bekanntesten deutschen Jägers dem Autor nicht geläufig? Oder warum wird mit dieser Person so unbekümmert umgegangen?

Zur Erinnerung vereinfacht zusammengefasst: Herr Göring war ein drogensüchtiger und größenwahnsinniger Massenmörder. Er gehörte zu den Menschen, die von Anbeginn an der Beseitigung der demokratischen Weimarer Verfassung gearbeitet haben. Und Hermann Göring ist auch federführend verantwortlich für den Tod von mindestens etwa 6 Millionen Menschen! Er hat 1941 Reinhard Heydrich mit der „Endlösung der Judenfrage“ beauftragt.

Demokratisch gesinnte Menschen fragen sich: Was bitteschön ist an Symbolen der Geltungssucht dieses Mannes (be)suchenswert?

Der Stumpf sitzt auf der rechten Seite

Ein Abdruck des Leserbriefes fand bisher (die nachfolgenden drei Ausgaben) nicht statt. Das ist für sich noch kein nennenswerter Sachstand. Jedoch verwundert es, wenn dann folgender Abdruck eines Leserbriefes zu diesem Artikel erfolgt:

Der „versteckte Hirsch“

Bericht von einem ganz besonderen Ostpreußen. WuH 3/2010, Seite 100

Links und rechts

Der Stumpf der abgebrochenen Eissprosse sitzt bei „Raufbold“ nicht wie geschrieben auf der linken, sondern auf der rechten Stange … Anm. der Red.: Stimmt. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.“

Wild und Hund, 6/2010, S. 102.

Dies schwächt den Eindruck, dass mit diesem Artikel in stillschweigendem Einvernehmen ein Göring-Kult gepflegt wird, nicht gerade ab.

Der anerkannte Jagdflieger

Nun war Hermann Göring nicht der klassische Nazi. Er verfolgte immer auch eigene Ziele, die nicht zu jeder Zeit mit der Nazi-Ideologie konform gingen. Jedoch arrangierte er sich schon früh in der Weimarer Republik mit Hitler und den Nazis und brachte es so bis in höchste Machtpositionen. Er ließ die ersten Konzentrationslager bauen, veranlasste die Gründung der Gestapo und befahl die Vernichtung der Juden. Auch wenn Hermann Göring im Ersten Weltkrieg vielleicht ein allgemein anerkannter deutscher Jagdflieger war, darf seine Mitverantwortung für die Verbrechen der Nazis bei der Auseinandersetzung mit seiner Person nicht unerwähnt bleiben.

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