V. Begründung einer Hoffnung
Begründung einer Hoffnung
Oder
Warum wir heute in Deutschland einen 62. Jahrestag feiern sollten
Gedanken zum Zeitgeist V – im Ostfalen-Spiegel
Von Rainer Elsner
62 Jahre? Warum soll ich heute feiern? Wer wird heute 62 Jahre alt? Nicht wenige, auch gebildete Menschen in Deutschland werden heute möglicherweise diese Frage stellen. Es sei denn, sie haben sich in der Nähe öffentlicher Gebäude schon gefragt, warum diese beflaggt sind. Andere Menschen aber wissen zum Glück auch sofort, warum heute die Flaggen am Mast gehisst wurden, was sie heute feiern können – und dürfen! Das „dürfen“ gehört dazu, denn es ist nicht selbstverständlich. Ein Blick in die Welt und in die (deutsche) Geschichte – auch die Geschichte dieser 62 Jahre – zeigt, dass das „dürfen“ nicht sicher ist. Was wir heute feiern können und dürfen und warum das trotz aller Fehlentwicklungen und Enttäuschungen eine Hoffnung begründen kann, darum soll es in den folgenden Denkanstößen gehen. Damit wollen diese fünften Gedanken zum Zeitgeist hier im Ostfalen-Spiegel den Zeitgeist diesmal zugleich mehr von der positiven Seite her beleuchten – wenn auch wieder auf nicht unbedingt ausgetretenen Pfaden.
„Ihr folget falscher Spur,
Denkt nicht wir scherzen!
Ist nicht der Kern der Natur
Menschen im Herzen?“[1]
Am 23. Mai 1949 verkündete in den drei westlichen Besatzungszonen der (ein Dreivierteljahr zuvor eingerichtete) Parlamentarische Rat das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Dieses verfassungsgleiche Grundgesetz, faktisch seitdem die bundesdeutsche Verfassung, ist die wohl freieste und menschenfreundlichste Verfassung, die ein deutscher Staat jemals hatte. Und trotz aller Angriffe und „Verwässerungen“ ist das noch immer der Fall. Die Bundesrepublik Deutschland hat es mit 62 Jahren auch geschafft, länger zu bestehen als jeder andere länderübergreifende deutsche Staat – und das eben mit einer demokratischen Verfassung. Und diese Verfassung ist der Grund zum Feiern! Eine Verfassung, die in Menschenliebe gründend sich unumstößlich der Würde des Menschen und den universalen Menschenrechten verpflichtet hat! Alle Menschen besitzen den gleichen Wert, alle Menschen haben das Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit, die Todesstrafe ist abgeschafft, Eigentum verpflichtet … – es sind hohe Ideale, die diese Verfassung widerspiegelt!
Menschen, die dem guten Klang dieses Wortes auch Wahrhaftigkeit verleihen
Ein Blick in die Welt zeigt: Eine Vielzahl von Staaten wird noch immer despotisch regierten. Viele Menschen müssen unter menschenverachtenden Bedingungen leben und haben keinerlei gesetzlichen Anspruch auf Achtung ihrer Würde und ihrer Freiheit. Es kann also durchaus als Privileg angesehen werden, auf der Basis einer Verfassung wie dem Grundgesetz leben zu können und zu dürfen. Dies ist aber keine Gnade, sondern ein Vermächtnis. Und aus diesem Vermächtnis ergeben sich eine Verantwortung und eine Pflicht. Denn eine noch so gute Verfassung ist zunächst nur eine Ansammlung guter Worte. Seinen tatsächlichen Wert erhält jedes gute Wort erst mit Menschen, die dem guten Klang dieses Wortes auch Wahrhaftigkeit verleihen. Mit dem Leben im Schutz dieser Verfassung haben wir also zugleich die Verantwortung für diese Verfassung übertragen bekommen. Und aus dieser Verantwortung resultiert die Pflicht, diese Verfassung unsererseits zu schützen!
„Demnach muß ein jedes vernünftige Wesen so handeln, als ob es durch seine Maximen jederzeit ein gesetzgebendes Glied im allgemeinen Reiche der Zwecke wäre. Das formale Prinzip dieser Maximen ist: handele so, als ob deine Maxime zugleich zum allgemeinen Gesetz (aller vernünftigen Wesen) dienen sollte.“[2]
Die Demonstration zu Stuttgart 21 im Spätsommer 2010 beispielsweise oder die momentan stattfindenden unzähligen Proteste gegen die weitere Nutzung der Atomkraft wie auch die kritische Haltung[3] zu den Auslandseinsätzen der Bundeswehr zeigen, dass sich viele Menschen hier in Deutschland durchaus der genannten Verantwortung und Pflicht bewusst sind. Der zugleich mancherorts anzutreffende teilnahmslos erscheinende Umgang mit dem Leid anderer Menschen, das erstaunlich starke Interesse für die königliche Hochzeit in England oder die (diesem Interesse wohl nahestehende) immer noch anzutreffende Bewunderung für die strahlend aber leer erscheinende Schönheit der Guttenbergs zeigen beispielhaft freilich auch, dass sicher viele Menschen dieses Verantwortungsbewusstsein noch nicht erlangt haben.
„Den »Ohne mich«-Typen ist eines der absolut konstitutiven Merkmale des Menschen abhanden gekommen: die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement.“[4]
ein besonderes Zeichen der Hoffnung schenken uns gerade die Menschen in Spanien
Ein Blick ins befreundete Europa und sogar in die durchaus mitunter sehr finster erscheinende Welt findet dann aber wieder Zeichen der Hoffnung: Die nach Freiheit strebenden Menschen in Ägypten, die eine despotische Regierung ohne Waffengewalt stürzen (wenn auch nicht gänzlich gewaltfrei wie 1989 in der DDR) sind ein solches Zeichen – dabei hatten wir hier im „arroganten“ Westen doch geglaubt, diese Menschen wären alle potentielle islamische Fundamentalisten! Und ein besonderes Zeichen der Hoffnung schenken uns gerade die Menschen in Spanien, die auf die Straße gehen, weil sie nicht mehr bereit sind, ihre Freiheit und ihre Zukunft den Interessen einer fragwürdigen Elite, bestehend aus „Grauen Eminenzen“, Managerinnen und Managern von Banken und Konzernen und willfährigen Politikern und Politikerinnen, zu opfern.
„Die Menschen werden nicht dadurch gerecht, daß sie wissen, was gerecht ist, sondern indem sie die Gerechtigkeit lieben.“[5]
Zurück in Deutschland können wir auch mit einem Blick in die Geschichte Zeichen der Hoffnung finden: Die Geschwister Scholl und ihre Verbündeten, die nach dem Erkennen der Unmenschlichkeit schlussendlich ihr Leben gaben für das Ideal der Menschlichkeit. Die „Mütter und Väter“ des Grundgesetzes eben, die mit der gerade gemachten Erfahrung des ultimativ Unmenschlichen eine unumstößlich der Menschlichkeit verpflichtete Verfassung schrieben. Franzosen und Deutsche, die nach fast einem Jahrhundert blutiger Feindschaft echte Freunde geworden sind.
Es gibt eben auch immer wieder diese Zeichen der Hoffnung
Wenn auch nichts auf alle Zeit sicher ist und nichts Positives ohne stetes Bemühen auf alle Zeit Bestand hat. Es gibt eben auch immer wieder diese Zeichen der Hoffnung! Und diese Zeichen schenken die Hoffnung, dass es sich doch noch zum Positiven kehrt. Diese Zeichen lassen hoffen, dass sich auch Menschen wie Herr Guttenberg (um an die vorhergehenden Gedanken zum Zeitgeist anzuknüpfen) besinnen können und nicht mehr eine Welt des schönen Scheins pflegen, sondern sich tatsächlich ihrer menschlichen Verantwortung verpflichten. Diese Zeichen lassen hoffen, dass immer weniger Menschen dem bequem erscheinenden Egoismus folgen, sondern sich ebenfalls besinnen. Wenn wir die Menschen lieben, müssen wir gemeinsam unerschütterlich und mitunter schonungslos hin zum Wertpositiven streben. Nicht durch jederzeit hartes Bekämpfen aber werde ich menschlich, sondern durch die Fähigkeit, im Zweifel auch meinem Herzen und nicht meinem Ego folgen zu können. Oder, wie es Karl Jaspers formuliert hat:
„Wir sind sterblich als bloßes Dasein, unsterblich, wo wir zeitlich erscheinen, als das, was ewig ist. Wir sind sterblich als Lieblose, unsterblich als Liebende. Wir sind sterblich in der Unentschiedenheit, unsterblich im Entschluß. Wir sind sterblich als Naturgeschehen, unsterblich, wo wir uns in unserer Freiheit geschenkt werden.“[6]
Die Verkündung unseres Grundgesetzes vor 62 Jahren wie auch dessen in seinen Fundamenten unveränderter Bestand geben also Anlass zur Hoffnung. Jedoch der fortwährende Erhalt dieser Verfassung ist nur gesichert, wenn jede Bürgerin und jeder Bürger deren Sinn und Bedeutung jederzeit in seinem Bewusstsein hält und für diesen Erhalt eintritt[7]. Wir dürfen heute also unsere Verfassung feiern! Vielleicht würde der 23. Mai als nationaler Feiertag dem Erlangen des notwendigen Verantwortungsbewusstseins ebenso dienen, wie dies der 3. Oktober kann. Feiern wir am 3. Oktober die Wiedervereinigung beider deutschen Nachkriegsstaaten und somit vor allem den Mut der friedlich demonstrierenden Menschen in der DDR von 1989. So können wir heute, am 23. Mai, die Besinnung der Menschen in der sich gründenden Bundesrepublik von 1949 auf Menschenliebe, Menschenwürde, Menschenrechte, Demokratie und Freiheit feiern!
Weg der Zivilisation über den Abgründen der Barbarei wohl immer eine Gradwanderung
Diese Besinnung auf Frieden und Menschlichkeit ist notwendig, da der Weg der Zivilisation über den Abgründen der Barbarei wohl immer eine Gradwanderung bleiben wird. Wer nun angesichts der Schrecken der Welt und düsterer Zukunftsprognosen von Angst und Verzweiflung geplagt wird, vernehme noch einmal Karl Jaspers:
„Auf echte Weise hat Mut, wer aus Angst im Erfühlen des Möglichen zugreift in dem Wissen: nur wer Unmögliches will, kann das Mögliche erreichen. Die Erfahrung der Unerfüllbarkeit in dem Versuchen der Erfüllung kann allein verwirklichen, was dem Menschen aufgegeben ist zu tun.“[8]
Wolfenbüttel, den 23. Mai 2011
Quellen
[1] Goethe, Johann Wolfgang von: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. V. Erich Trunz. Band I. Gedichte und Epen I. Textkritisch durchgesehen u. kommentiert v. Erich Trunz. 14., durchges. Aufl. München: Verlag C. H. Beck, 1989 [(1) 1948], S. 306.
[2] Kant, Immanuel: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hrsg. Von Theodor Valentiner. Stuttgart: Reclam, 1991 [(1) 1785], S. 92 f. (Hervorhebung im Original).
[3] Heinz, Wolfgang S.: Zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr in der Terrorismusbekämpfung. Analysen und Empfehlungen aus der Sicht des internationalen Menschenrechtsschutzes
[4] Hessel, Stéphane: Empört euch! 8. Aufl. Berlin: Ullstein, 2011 [(1) 2010], S.13.
[5] Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes: Das Denken: Das Wollen. Hrsg. V. Mary McCarthy. A. d. Amerik. V. Hermann Vetter. Ungek. Taschenbuchausg. 2. Aufl. München: Piper, 2002 [(1) 1971], S. 337 f.
[6] Jaspers, Karl: Kleine Schule des philosophischen Denkens. Ungek. Taschenbuchausg. München: Piper, 1997 [(1) 1965], S. 165 f.
[7] Vgl. auch Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz (GG)
[8] Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit: von Prof. Dr. Karl Jaspers. 9. Abdr. der im Sommer 1932 bearb. 5. Aufl. Berlin, New York: Walter de Gruyter, 1999 [(1) 1932], S. 135.
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Gedanken zum Zeitgeist
In den Gedanken zum Zeitgeist erscheinen in loser Folge kritische Kommentare zur aktuellen gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Deutschland und der Welt. Die einzelnen Gedanken zum Zeitgeist fokusieren in der Regel ein Thema und setzen auch unterschiedliche Schwerpunkte. Grundsätzliche Standpunkte wie auch der philosophische Unterbau werden dabei nicht jedes Mal neu dargelegt. Für ein besseres Verständnis der Basis der geäußerten Kritik ist es also sinnvoll, nach und nach alle Gedanken zum Zeitgeist zu lesen und auch die Seite Ostfalen-Spiegel.
III. Die Demokratie lebt vom Diskurs
VII:.…
Super Artikel!